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Späte Gerechtigkeit für die Streikopfer

  • Montag, 25. April 2016 @ 09:35
Geschichte Der Gewerkschaftsbund räumt nach Jahrzehnten einen Irrtum bei der Betrachtung des Oktoberstreiks 1950 ein

Als 1950 in Österreich alle Räder stillstanden, war Walter Stern gerade 26 Jahre alt. „Wir haben uns zu einer Vollversammlung im Betrieb getroffen, die Mehrheit hat für die Arbeitsniederlegung gestimmt“, erzählt der 1924 Geborene heute. Stern arbeitete als Werkzeugmacher bei der Firma Goerz in Favoriten, die Messgeräte produzierte, und er bewohnte ein Untermietzimmer. Er war einer von jenen Arbeitern, die sich am sogenannten Oktoberstreik beteiligten, jenem Streik, der Jahrzehnte hindurch vom offiziellen Österreich nur als eines bezeichnet wurde: als Putschversuch der Kommunisten mit dem Ziel, Österreich zu einem Teil der Sowjetunion werden zu lassen.

Im Herbst des Vorjahres, 65 Jahre nach den Ereignissen, hat der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) diese Geschichtsschreibung erstmals korrigiert: In einem Beschluss, den man als historisch bezeichnen kann, hat der ÖGB-Bundesvorstand nun alle wegen ihrer Teilnahme an diesem Arbeitskampf des Jahres 1950 ausgeschlossenen Gewerkschaftsmitglieder rehabilitiert und posthum wieder als Mitglieder anerkannt.

Basis für diesen Gewerkschaftsbeschluss ist die Arbeit eines Forschungsteams. Die beiden Historiker Peter Autengruber und Manfred Mugrauer präsentieren die Ergebnisse dieser Tage in Buchform.

Wieso wurde der Beschluss 2015 nicht publik gemacht? „Es gibt das Buch“, sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar. Für ihn ist klar: „Wäre der Fall damals so eindeutig wie heute gewesen, hätte es die Ausschlüsse nicht gegeben.“ Nun gebe es eine „eindeutige Klarstellung“ – „mehr kann man nicht mehr machen“. Außer: „Wir passen unsere Bildungsunterlagen an.“

Auch Werkzeugmacher Stern stimmte 1950 für den Streik. Warum? Einerseits, so bekennt er heute, aus Parteidisziplin – Stern war bis zum Prager Frühling KPÖ-Mitglied – und andererseits, weil „die Löhne nicht im Ausmaß wie die Preise stiegen“. Sein Gehalt zu der Zeit: 2,58 Schilling pro Stunde. „Das war damals ein guter Lohn.“

Auslöser für die Streikwelle, die sich rasch über ganz Österreich verbreitete, ist das vierte Lohn-Preis-Abkommen. „Die Preise sind dahingaloppiert. Die Löhne waren niedrig, damit die Unternehmen mehr Geld für Investitionen haben“, erklärt Autengruber die Ausgangslage.

Dass die Verhandlungen geheim geführt werden, bringt die kampfbereiten Arbeiter weiter auf. Am 22. September werden via Rundfunk erste Inhalte des Abkommens verlautbart. Mehl wird beispielsweise mit einem Schlag um 64 Prozent teurer, Zucker um 34 und Brot um 26 Prozent.

Am 26. September stimmt der ÖGB zu – nur die Kommunisten sind gegen das Lohn-Preis-Abkommen. Die Unzufriedenheit ist groß. „Die Arbeiterschaft war angefressen, und der Funke ist bald übergesprungen“, sagt Historiker Autengruber. Arbeiter der Elektrizitäts- und Straßenbahn-AG und der Voest legen die Arbeit nieder.

Beim Stahlkonzern sei bemerkenswert, dass der Verband der Unabhängigen (VdU) mitmachte, sagt Mugrauer: „Dass der VdU zu Streikbeginn mit an Bord war, ist ein Beleg dafür, dass diese Arbeitsniederlegungen spontan von unten entstanden sind.“ Der VdU stellte damals im Betriebsrat der Voest die Mehrheit – ein Fünftel der rund 10.000 Mitarbeiter waren Volksdeutsche.

Interessantes Detail: Die Besatzungsmächte halten sich heraus. In Linz stehen Straßenbahnen wie Busse still. „In Steyr war der SPÖ-Bürgermeister an der Spitze des Demonstrationszugs. Das zeigt, wie groß der Druck von unten war“, folgert Mugrauer. Auch in Wien protestieren die Arbeiter. Insgesamt rund 200.000 Menschen beteiligen sich an der Streikbewegung.

Die Historiker Mugrauer und Autengruber greifen auch ein noch immer weitverbreitetes Gerücht auf: den versuchten Putsch durch die Kommunisten. Ziel des Gewerkschaftsbundes sei es gewesen, die kommunistischen Gewerkschafter zu isolieren.

Die Autoren zitieren einen Tätigkeitsbericht des ÖGB aus dem Jahr 1951: „Das Misslingen des Putschversuchs bewies die politische Reife und gewerkschaftliche Disziplin der österreichischen Arbeiter und Angestellten.“

In seinem Beschluss vom 29. Oktober 2015 liest sich das jetzt ganz anders: „Da die Behauptung, es habe sich bei den Oktoberstreiks 1950 um einen kommunistischen Putschversuch gehandelt, nach heutigen historischen Erkenntnissen widerlegt ist, sind alle gewerkschaftlichen Bildungsunterlagen, soweit das noch nicht erfolgt ist, dementsprechend anzupassen.“

Für Stern ist das eine späte Genugtuung. „Die Putschthese war falsch. Hätten die Sowjets tatsächlich ein Interesse an einer Spaltung des Landes gehabt, hätten sie das durchgezogen“, ist er überzeugt.

Wer streikt, muss mit Problemen rechnen – vor allem als Kommunist. Viele Gewerkschafter verlieren damals Funktion und/ oder Job. Die bisher als historisch richtig geltende Zahl von 85 Gewerkschaftern muss korrigiert werden. Autengruber und Mugrauer führen 78 Menschen an, darunter elf ÖGB-Sekretäre und vier stellvertretende Vorsitzende der damals 16 Gewerkschaften (heute sieben).

Und dann ist da noch Franz Olah (SPÖ), später Innenminister und ÖGB-Präsident. In seiner Funktion als Sekretär der Bau-Holzarbeiter-Gewerkschaft organisiert er eine Schlägertruppe, die in Wien zur Niederschlagung des „Putsches“ losgeschickt wird.

Mugrauer relativiert: „Olah hat sich gern als Held von 1950 präsentiert. Dass er zum Retter der Republik stilisiert wurde, ist nur ein rezeptionsgeschichtliches Phänomen und begründet sich auch in seiner langen Lebensdauer.“ Außerdem, führt sein Autorenkollege an, habe dies am 4. Oktober stattgefunden, „wo schon klar war, dass der Streik zusammengebrochen ist“.

Einen Tag später wird bei einer gesamtösterreichischen Betriebsrätekonferenz das Streikende offiziell besiegelt. Tags darauf wird wieder gearbeitet. Ausgestreikt.

Unmittelbar danach beginnt die Säuberung. Walter Stern hat Glück. Er bleibt unbehelligt. Seine Frau Elfriede, die bis dahin bei der Staatspolizei als Schreibkraft gearbeitet hat, wird hingegen versetzt. Sterns Fazit des Streiks fällt knapp aus: „Ich habe das schon als Niederlage empfunden.“ (Peter Mayr, 24.4.2016)

Peter Autengruber, Manfred Mugrauer: „Oktoberstreik“. 24,90 Euro / 224 Seiten. ÖGB-Verlag

Personalia:

Gottlieb Fiala (1891-1970) war in der Ersten Republik einer der führenden Funktionäre der KPÖ. In den 1930er-Jahren setzte er seine Gewerkschaftsarbeit illegal fort. 1945 nahm er als KPÖ-Vertreter an jenen Gesprächen teil, die zur Gründung des ÖGB führten, dessen Vizepräsident er bis Oktober 1950 war. Am 16. Oktober 1950 wurde er aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. 1949 bis 1954 war er einziger KPÖ-Bundesrat, 1951 Präsidentschaftskandidat. Er erreichte damals 5,1 Prozent der Stimmen.

Leopold Hrdlicka (1901-1971), Vater des Bildhauers Alfred Hrdlicka, war stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Angestellten in der Privatwirtschaft. Der KPÖ gehörte er seit 1922 an. Im Austrofaschismus wurde er wegen illegaler Gewerkschaftstätigkeit verhaftet, während der Nazi-Zeit muss er in eine Strafkompanie. Der Zentralvorstand der Gewerkschaft der Angestellten in der Privatwirtschaft schloss ihn am 5./6. November 1950 aus. Danach war er Mitarbeiter in der KPÖ, die er aufgrund der Ereignisse in Ungarn 1956 verließ.

Marie Grassinger (1893-1977) war Betriebsrätin bei der Telephon- und Telegraphenfabrik Czeija und Nissl in Wien. Ihr wurde ein Leserbrief im KP-Zentralorgan, in dem sie den SP-Betriebsratsobmann ihrer Firma als Kommunistenhetzer angriff, zum Verhängnis. Am 28. Februar 1951 wurde sie deshalb aus der Gewerkschaft der Metall- und Bergarbeiter ausgeschlossen. Grassinger war zu Beginn Sozialdemokratin, trat aber 1934 der KPÖ bei. Im Austrofaschismus war sie zweimal kurzzeitig in Haft. Von den Nationalsozialisten verfolgt, überlebte sie das KZ Ravensbrück. Grassinger war unter anderem Mitglied der Wiener Stadtleitung der KPÖ.

Quelle: www.derstandard.at, 24.4.2016