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Phantasie an die Macht

  • Dienstag, 24. Februar 2015 @ 14:10
International Anne Rieger und Anton Kobel über die Solidarität mit amazon-Beschäftigten

Seit April 2013 streiken immer wieder Beschäftigte bei amazon mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft Ver.di. Ziel ist ein Kollektivvertrag mit Regelungen des Einzel- und Versandhandels. Weiters wird beanstandet:
• geringe Wertschätzung, mangelnder Respekt, Dauerkontrollen der Beschäftigten
• große Unsicherheiten für die vielen Befristeten
• Erhöhung der Löhne und Gehälter nach Gutsherrenart
• hoher Leistungsdruck, ständige Kontrolle und krankmachende Arbeitsbedingungen führen zu einem hohen Krankenstand von 15-20 Prozent.

In Deutschland arbeiten in neun Versandhandelszentren 15.000 Stammbeschäftigte (9.000 unbefristet, 6-7.000 befristet) sowie 14.000 Saisonkräfte. Durch die Weigerung, den Einzel- und Versandhandelskollektivvertrag anzuwenden, »spart« amazon beträchtliche Personalkosten:
• Ein Einstiegslohn von 10,11 Euro bei amazon bedeutet 1.698 Euro brutto Monatslohn – gegenüber 2.098 Euro laut Kollektivvertrag,
• 400 Euro Weihnachtsgeld – statt 1.311 Euro nach KV,
• kein Urlaubsgeld und 28 Tage Urlaub – statt 1.182 Euro und 30 Tage Urlaub nach KV,
• 38,75-Stundenwoche für die Gewerblichen, 40 Stunden für Angestellte und Azubis – statt 37,5 Stunden nach KV

Globaler Gewerkschaftsgegner

120.000 Beschäftigte erarbeiteten 2013 einen weltweiten Umsatz von 56 Mrd. Euro. Das Vermögen des Gründers Jeff Bezos stieg seit 1994 durch ihrer Hände Arbeit auf 25 Mrd. Dollar. In Deutschland wuchs der Umsatz zwischen 2010 und 2013 von 3,9 Mrd. auf 7,7 Mrd. Euro. Damit ist amazon die Nummer eins im Online-Handel.

Zum Zweck der »kreativen Steuervermeidung« firmiert amazon.de als 100-prozentige Tochter der europäischen Holding in Luxemburg. Ergebnis 2012: 6,4 Mrd. Euro Umsatz in Deutschland, 10,2 Mio. Euro Vorsteuergewinn, 3,2 Mio. Euro Steuerzahlung. Mit der wirtschaftlichen Macht entscheiden die Arbeitsbedingungen und eine KV-Bindung bei amazon über die Situation in der ganzen Branche.

22 Monate Streiks und Aktionen

An sechs Standorten fanden von ver.di ausgerufene Streiks unterschiedlicher Dauer statt. Die Struktur der Belegschaft erschwert Arbeitskämpfe. Derzeit beteiligt sich ungefähr ein Drittel, ein Drittel ist gegen Streiks, ein Drittel – vor allem die befristet Beschäftigten – hofft bei Nichtteilnahme auf Weiterbeschäftigung.

Eine Wende im Arbeitskampf könnten die Erfahrungen von 1250 Beschäftigten in Brieselang (Brandenburg) nach Weihnachten 2014 bringen. Dieser Betrieb wurde Ende 2013 mit staatlichen Subventionen in zweistelliger Millionenhöhe eröffnet und die Zusage, tausend langfristig sichere Arbeitsplätze zu schaffen, den 1.250 befristet Beschäftigten als Karotte vor die Nase gehalten. Vor allem deshalb beteiligten sie sich im Dezember nicht an den Streiks. Das verspätete »Weihnachtsgeschenk« für sie: Zum 29. Dezember endete für 900 Befristete das Arbeitsverhältnis, zum 31. Jänner für 120 weitere und für 165 weitere dann zum 30. Juni 2015. Nur 35 Beschäftigte erhielten einen unbefristeten Vertrag, damit sind nur 285 unbefristet in Arbeit.

In der Vorweihnachtszeit kam es zu den bislang massivsten Streiks – laut ver.di beteiligten sich 2.700 Beschäftigte. amazon versuchte die auftretenden Lieferschwierigkeiten durch Verlagerung in die Logistikzentren in Frankreich, Polen, Tschechien und England zu mildern. Hierzu die mit Vorsicht zu genießenden amazon-Angaben: Es habe 20 Prozent mehr Bestellungen als im Weihnachtsgeschäft 2013 gegeben, die den Kunden garantierten kurzen Lieferfristen hätten eingehalten werden können. Anderslautende Kundenäußerungen lassen dies eher als übliche »Arbeitskampf-Prosa« erscheinen, wie man sie von Unternehmen kennt: keine Streikfolgen im Betrieb, zufriedene Kunden, steigende Umsätze, kurzum angeblich wirkungslose Streiks. Die Streiks gehen weiter. Am 13. Jänner rief ver.di in Leipzig die Beschäftigten zur Arbeitsniederlegung im laufenden Betrieb auf. Eine wirksame, weil überraschende Aktion.

Solidarische Unterstützung

Zahlreiche Formen der Solidarität sind entstanden: Leserbriefe, Blogs, Beschwerden an amazon, Postkartenaktionen, Fahrten zu den Streikenden in Frankreich, Polen und Tschechien, Spenden und Veranstaltungen. In Kassel, Leipzig und Berlin organisieren Solidaritätskreise Aktionen. Aufsehen erregte am 7. November eine Drohne, die in Leipzig symbolisch einen Kollektivvertrag brachte. Schon über 35.000 Menschen haben sich an einer Internet-Petition beteiligt, die ein amazon-Beschäftigter ins Leben gerufen hat.

Eigenwillige KundInnen begutachten Bestellungen mit mehreren Artikeln, packen sie aus und schicken sie getrennt zurück. Unzufriedene KundInnen können Retourenaufkleber ordern, die den Paketzustellern und den Beschäftigten die Unterstützung von KundInnen zeigen. Angesichts der Bedeutung dieses Arbeitskampfes für die Beschäftigten und die gesamte Branche Einzelhandel ist weitere Solidarität notwendig, auch um beispielhaft einen global agierenden Konzern zu resozialisieren. Motto: Phantasie an die Macht!

Anne Rieger ist Stv. GLB-Landesvorsitzende in der Steiermark. Anton Kobel ist Redakteur von „express“ der Gewerkschaft ver.di Rhein-Neckar