Neue Solidarität erforderlich
- Montag, 24. November 2014 @ 11:12
Michael Graber über das Scheitern des Realsozialismus und die Folgen
Den 9. November 1989, als die Grenze der DDR zu Westberlin für alle DDR-Bürger geöffnet wurde, werten die Medien als das entscheidende Datum nicht nur für den Beginn des Endes der DDR, sondern des „realen Sozialismus“ in Osteuropa insgesamt. So symbolträchtig der „Fall der Berliner Mauer“ auch gewesen sein mag, er war nur eine Zwischenstation bei der Implosion der bis dahin bestehenden Gesellschaftsordnung in Osteuropa und insbesondere in der Sowjetunion.
Systemwechsel schon im Gange
Der Systemwechsel zu kapitalistischen Verhältnissen war in Ungarn seit 1988 im Gange und seit Frühjahr 1989 verhandelte die bisherige kommunistische Regierungspartei in Polen mit den antikommunistischen Oppositionsgruppen am Runden Tisch über eine Machtteilung, die aber nur vorübergehend Bestand hatte.
Seit die KPdSU unter Gorbatschow begonnen hatte ihr Machtmonopol aufzugeben und signalisierte, dass sie auch nicht mehr bereit oder auch nicht mehr imstande war, das Machtmonopol der regierenden kommunistischen Parteien in Osteuropa zu sichern, traten die meisten dieser Parteien den Rückzug an. Nur in Rumänien kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen beim Sturz Ceausescus.
Verlorene Hegemonie
Das damit verbundene Eingeständnis, dass die Parteien über keine Hegemonie in den von ihnen regierten Gesellschaften verfügten oder nicht mehr verfügten, verhinderte gewaltsame Auseinandersetzungen. Dass es so weit kommen konnte, hat verschiedene innenpolitische, internationale und historisch bedingte Ursachen, über die nach wie vor in kommunistischen und linken Parteien diskutiert wird.
Klar ist aber, dass die offensichtlichen Errungenschaften in den von kommunistischen Parteien geführten Ländern, soziale Sicherheit, freier bzw. offener Zugang zu Gesundheits- und Bildungssystemen und anderes auf Dauer die Systemmängel und Fehler nicht aufwiegen konnten, vom Fortbestehen von im Stalinismus entstandenen Strukturen ganz abgesehen.
Dazu zählt in erster Linie der Mangel an Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen, der nicht nur in dieser Hinsicht der offiziellen Propaganda widersprach. Weiters die Überzentralisierung wirtschaftlicher Planungs- und Entscheidungsstrukturen, die Unterschätzung von Marktmechanismen vor allem in konsumgüternahen Bereichen, die zu Schwarzmarkt und Versorgungsmängel führten, was das sozialistische Leistungsprinzip („jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung“) untergrub. Dies und die Privilegierung der politischen Nomenklatura führten zur politischen und moralischen Zersetzung.
Rüstungswettlauf verloren
Diese und andere Mängel wirkten umso gravierender, als die Rüstungslasten auf Grund der geringeren Produktivität im Vergleich zu den entwickelten kapitalistischen Ländern alle gesellschaftlichen Bereiche und Entwicklungen zusätzlich beeinträchtigten. Als historische Erfahrung gilt daher, dass ein Rüstungswettlauf das Überleben zukünftiger sozialistischer Entwicklungen nicht sichern kann. Entscheidend sind die inneren Voraussetzungen und Faktoren, die Erringung und Bewahrung jener gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hegemonie der progressiven sozialen und politischen Kräfte, die die aktive Teilnahme und Teilhabe an den angestrebten Veränderungen ermöglichen.
Die KPÖ hat für sich jedenfalls aus diesen und weiteren Erfahrungen und Überlegungen den Schluss gezogen, dass die ehemals „realsozialistischen Länder“ keine Blaupause für jene gesellschaftlichen Umgestaltungen abgeben können, die sie anstrebt.
Nach 25 Jahren kapitalistischer Restauration in Osteuropa ist deren Bilanz allerdings im wörtlichen Sinne verheerend. In vielen dieser Länder liegt das Niveau der wirtschaftlichen Tätigkeit nach wie vor unter dem der realsozialistischen Phase. Und das gilt in noch stärkerem Ausmaß für die soziale Entwicklung. Der aus wirtschaftlichen, nicht aus politischen Gründen gespeiste Exodus aus diesen Ländern geht in die Millionen. Ganze Bevölkerungsgruppen wie etwa die Roma, ebenfalls Millionen, wurden aus dem wirtschaftlichen und damit aus dem sozialen Gefüge der Gesellschaften ausgegliedert. Altersarmut ist die Normalität.
Oligarchen als Erben
Die wirtschaftliche und damit letztendlich auch politische Macht liegt bei „Oligarchen“. Die Mitgliedschaft in der EU und der NATO trägt entgegen den Hoffnungen vieler zur Absicherung dieser Macht- und Ungleichverhältnisse bei, die kapitalistische Integration verurteilt diese Länder einschließlich Russland zur kapitalistischen Peripherie.
Das Leben und Überleben ist in den meisten osteuropäischen Ländern für die Mehrheit schwieriger und unsicherer geworden, ihre Stimme hat wenig Gewicht, nicht zuletzt durch die Schwäche der Gewerkschaften, linker Parteien und sozialer Bewegungen. Osteuropa wurde aus einem sozialen Machtfaktor, von dem die westlichen Gewerkschaften profitierten, zu einem Experimentierfeld des neoliberalen Kapitalismus, das auch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital in Europa insgesamt veränderte. Eine neue Solidarität in Europa ist erforderlich.
Michael Graber ist Volkswirt und Finanzreferent der KPÖ
Den 9. November 1989, als die Grenze der DDR zu Westberlin für alle DDR-Bürger geöffnet wurde, werten die Medien als das entscheidende Datum nicht nur für den Beginn des Endes der DDR, sondern des „realen Sozialismus“ in Osteuropa insgesamt. So symbolträchtig der „Fall der Berliner Mauer“ auch gewesen sein mag, er war nur eine Zwischenstation bei der Implosion der bis dahin bestehenden Gesellschaftsordnung in Osteuropa und insbesondere in der Sowjetunion.
Systemwechsel schon im Gange
Der Systemwechsel zu kapitalistischen Verhältnissen war in Ungarn seit 1988 im Gange und seit Frühjahr 1989 verhandelte die bisherige kommunistische Regierungspartei in Polen mit den antikommunistischen Oppositionsgruppen am Runden Tisch über eine Machtteilung, die aber nur vorübergehend Bestand hatte.
Seit die KPdSU unter Gorbatschow begonnen hatte ihr Machtmonopol aufzugeben und signalisierte, dass sie auch nicht mehr bereit oder auch nicht mehr imstande war, das Machtmonopol der regierenden kommunistischen Parteien in Osteuropa zu sichern, traten die meisten dieser Parteien den Rückzug an. Nur in Rumänien kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen beim Sturz Ceausescus.
Verlorene Hegemonie
Das damit verbundene Eingeständnis, dass die Parteien über keine Hegemonie in den von ihnen regierten Gesellschaften verfügten oder nicht mehr verfügten, verhinderte gewaltsame Auseinandersetzungen. Dass es so weit kommen konnte, hat verschiedene innenpolitische, internationale und historisch bedingte Ursachen, über die nach wie vor in kommunistischen und linken Parteien diskutiert wird.
Klar ist aber, dass die offensichtlichen Errungenschaften in den von kommunistischen Parteien geführten Ländern, soziale Sicherheit, freier bzw. offener Zugang zu Gesundheits- und Bildungssystemen und anderes auf Dauer die Systemmängel und Fehler nicht aufwiegen konnten, vom Fortbestehen von im Stalinismus entstandenen Strukturen ganz abgesehen.
Dazu zählt in erster Linie der Mangel an Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen, der nicht nur in dieser Hinsicht der offiziellen Propaganda widersprach. Weiters die Überzentralisierung wirtschaftlicher Planungs- und Entscheidungsstrukturen, die Unterschätzung von Marktmechanismen vor allem in konsumgüternahen Bereichen, die zu Schwarzmarkt und Versorgungsmängel führten, was das sozialistische Leistungsprinzip („jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung“) untergrub. Dies und die Privilegierung der politischen Nomenklatura führten zur politischen und moralischen Zersetzung.
Rüstungswettlauf verloren
Diese und andere Mängel wirkten umso gravierender, als die Rüstungslasten auf Grund der geringeren Produktivität im Vergleich zu den entwickelten kapitalistischen Ländern alle gesellschaftlichen Bereiche und Entwicklungen zusätzlich beeinträchtigten. Als historische Erfahrung gilt daher, dass ein Rüstungswettlauf das Überleben zukünftiger sozialistischer Entwicklungen nicht sichern kann. Entscheidend sind die inneren Voraussetzungen und Faktoren, die Erringung und Bewahrung jener gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hegemonie der progressiven sozialen und politischen Kräfte, die die aktive Teilnahme und Teilhabe an den angestrebten Veränderungen ermöglichen.
Die KPÖ hat für sich jedenfalls aus diesen und weiteren Erfahrungen und Überlegungen den Schluss gezogen, dass die ehemals „realsozialistischen Länder“ keine Blaupause für jene gesellschaftlichen Umgestaltungen abgeben können, die sie anstrebt.
Nach 25 Jahren kapitalistischer Restauration in Osteuropa ist deren Bilanz allerdings im wörtlichen Sinne verheerend. In vielen dieser Länder liegt das Niveau der wirtschaftlichen Tätigkeit nach wie vor unter dem der realsozialistischen Phase. Und das gilt in noch stärkerem Ausmaß für die soziale Entwicklung. Der aus wirtschaftlichen, nicht aus politischen Gründen gespeiste Exodus aus diesen Ländern geht in die Millionen. Ganze Bevölkerungsgruppen wie etwa die Roma, ebenfalls Millionen, wurden aus dem wirtschaftlichen und damit aus dem sozialen Gefüge der Gesellschaften ausgegliedert. Altersarmut ist die Normalität.
Oligarchen als Erben
Die wirtschaftliche und damit letztendlich auch politische Macht liegt bei „Oligarchen“. Die Mitgliedschaft in der EU und der NATO trägt entgegen den Hoffnungen vieler zur Absicherung dieser Macht- und Ungleichverhältnisse bei, die kapitalistische Integration verurteilt diese Länder einschließlich Russland zur kapitalistischen Peripherie.
Das Leben und Überleben ist in den meisten osteuropäischen Ländern für die Mehrheit schwieriger und unsicherer geworden, ihre Stimme hat wenig Gewicht, nicht zuletzt durch die Schwäche der Gewerkschaften, linker Parteien und sozialer Bewegungen. Osteuropa wurde aus einem sozialen Machtfaktor, von dem die westlichen Gewerkschaften profitierten, zu einem Experimentierfeld des neoliberalen Kapitalismus, das auch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital in Europa insgesamt veränderte. Eine neue Solidarität in Europa ist erforderlich.
Michael Graber ist Volkswirt und Finanzreferent der KPÖ