Digitale Ausbeutung
- Donnerstag, 24. November 2016 @ 12:19
Michael Gruberbauer zur Situation der Computerspielbranche
Vor 25 Jahren interessierte sich nur ein kleiner, eingeschworener Kreis von Fans für das Thema Computer- und Videospiele. Heute sind Games auch für die große Masse eine der beliebtesten Unterhaltungsformen. Das Durchschnittsalter des Publikums ist mittlerweile jenseits der 30 Jahre angekommen – bei einer Zielgruppe, die trotz der ernüchternden Gehaltsentwicklungen über genug Einkommen verfügt, um sich das Hobby leisten zu können. Kein Wunder also, dass die Umsätze des Geschäftsbereichs längst in Größenordnungen vordringen, die in den anderen großen Bereichen der Unterhaltungsindustrie (Kino, Musik) üblich sind.
Faszination Videospiel
Die Faszination eines immer breiteren Publikums an Videospielen ist einerseits mit einer effektiven Marketingmaschinerie, andererseits aber auch mit den grundsätzlichen Eigenschaften der Produkte selbst zu erklären. In Krisenzeiten boomt der Drang zur Ablenkung von den realen Umständen. Was wäre da geeigneter, als riesige virtuelle Welten, die mittlerweile in beinahe fotorealistischem Gewand daherkommen, die Hunderte Stunden an Ablenkung und Unterhaltung versprechen?
Egal ob man im neuesten Spiel der Assassin's Creed-Serie im London zur Zeit der industriellen Revolution umherstreift (und dort ein Gespräch mit dem im Exil lebenden Karl Marx führen kann) oder ob man in Battlefield 1 die (verharmlosten) Horrorszenarien des Ersten Weltkriegs durchlebt – die Möglichkeit, ein eindrucksvoll gestaltetes Paralleluniversum zu besuchen und HeldIn zu spielen, ist verlockend.
Die Technik macht es heute möglich, Welten zu erschaffen, die täuschend echt wirken. In Grand Theft Auto V von Rockstar Games, das sich mehr als 60 Millionen Mal verkauft hat, lebt man in einer im Computer nachgebauten Fantasiestadt, einer Mischung aus Los Angeles und San Francisco. Auf den Straßen fahren Autos, am Strand flanieren die TouristInnen, die Häuser sind realistisch eingerichtet und dekoriert. Die komplexe Simulation einer virtuellen Stadt baut sich nicht von selbst.
Verantwortlich sind Menschen, die all die virtuellen Objekte am Computer bauen und gestalten, die die Musik komponieren und die den Figuren des Spiels die Stimme leihen, die dem Computer einprogrammieren, wie die Simulation zu funktionieren hat. Hunderte Angestellte sind mehrere Jahre beschäftigt, um solche Projekte zu realisieren. Und während die Branche immer höhere Umsätze einfährt, werden diejenigen, die die virtuellen Welten tatsächlich zum Laufen bringen, ausgebeutet.
Crunchtime
Im Jahr 2004 ging die Frau eines Angestellten von Electronic Arts an die Öffentlichkeit: Ihr Mann werde seit Monaten dazu gedrängt, zwölf Stunden pro Tag – sechsmal die Woche – an seinem Projekt zu arbeiten. Als sich der Erscheinungstermin des Spiels näherte, wurde der freie Tag gestrichen, die zwölf Stunden Arbeit wurden zu 13-Stunden-Tagen. Betroffen war mehr oder weniger die ganze Belegschaft. Electronic Arts setzte seine Angestellten unter Druck statt mehr Leute einzustellen.
Diese Praxis – Crunchtime genannt – ist in der Videospieleindustrie eher die Regel als die Ausnahme. Wenige Jahre später gründeten Ehepartner von Angestellten des Rockstar-Studios eine Vereinigung, um sich über die Arbeitslast und -zeiten ihrer PartnerInnen und die zunehmenden familiären Folgen zu beschweren. Radikal geändert hat sich seitdem nichts. Und noch immer geben fast die Hälfte aller Befragten in einer Umfrage der International Game Developers Association (IDGA) an, regelmäßig bis zu 60, manchmal mehr als 80 Stunden pro Woche arbeiten zu müssen.
Angst vor Gewerkschaften
Die Ursachen für diesen Umstand sind leicht gefunden: Die erfolgreichen Spiele werden hauptsächlich in den USA und Kanada entwickelt. Gewerkschaften sind Tabu, lange Arbeitszeiten kein Problem. Das Durchschnittsalter in der Branche ist laut IDGA in den letzten zehn Jahren gleichgeblieben. Ältere überlassen das Feld den Jungen, die aufgrund der Karriereambitionen und mangels sonstiger Verantwortungen mit den Überbelastungen leben können. Die Firmen sind durch die fast ausschließlich jungen, männlichen Angestellten geprägt, die freiwillige Selbstausbeutung als notwendig und erstrebenswert erachten.
Anders sieht die Sache bei den SchauspielerInnen aus, die den virtuellen Figuren der Spiele ihre Stimme leihen. Sie stammen ursprünglich aus der Filmindustrie, die in den USA traditionell eine starke gewerkschaftliche Vertretung genießt. Vor wenigen Wochen wurde seitens der amerikanischen SAG-AFTRA-Gewerkschaft, die viele dieser SchauspielerInnen vertritt, ein Streik ausgerufen. Electronic Arts, Activision und andere reagierten mit einer Anti-Gewerkschafts-Website.
Das Signal zeigt: Die großen Konzerne haben Angst. Angst, dass bei einem erfolgreichen Streik die Praxis der gewerkschaftlichen Vertretung auch für ihre sonstigen Angestellten zunehmend attraktiver werden könnte. Und Angst, den Profit, den sie mit ihren virtuellen Welten machen, auch mit jenen zu teilen, die diese Welten bauen.
Michael Gruberbauer ist Redakteur der „Volksstimme“
Vor 25 Jahren interessierte sich nur ein kleiner, eingeschworener Kreis von Fans für das Thema Computer- und Videospiele. Heute sind Games auch für die große Masse eine der beliebtesten Unterhaltungsformen. Das Durchschnittsalter des Publikums ist mittlerweile jenseits der 30 Jahre angekommen – bei einer Zielgruppe, die trotz der ernüchternden Gehaltsentwicklungen über genug Einkommen verfügt, um sich das Hobby leisten zu können. Kein Wunder also, dass die Umsätze des Geschäftsbereichs längst in Größenordnungen vordringen, die in den anderen großen Bereichen der Unterhaltungsindustrie (Kino, Musik) üblich sind.
Faszination Videospiel
Die Faszination eines immer breiteren Publikums an Videospielen ist einerseits mit einer effektiven Marketingmaschinerie, andererseits aber auch mit den grundsätzlichen Eigenschaften der Produkte selbst zu erklären. In Krisenzeiten boomt der Drang zur Ablenkung von den realen Umständen. Was wäre da geeigneter, als riesige virtuelle Welten, die mittlerweile in beinahe fotorealistischem Gewand daherkommen, die Hunderte Stunden an Ablenkung und Unterhaltung versprechen?
Egal ob man im neuesten Spiel der Assassin's Creed-Serie im London zur Zeit der industriellen Revolution umherstreift (und dort ein Gespräch mit dem im Exil lebenden Karl Marx führen kann) oder ob man in Battlefield 1 die (verharmlosten) Horrorszenarien des Ersten Weltkriegs durchlebt – die Möglichkeit, ein eindrucksvoll gestaltetes Paralleluniversum zu besuchen und HeldIn zu spielen, ist verlockend.
Die Technik macht es heute möglich, Welten zu erschaffen, die täuschend echt wirken. In Grand Theft Auto V von Rockstar Games, das sich mehr als 60 Millionen Mal verkauft hat, lebt man in einer im Computer nachgebauten Fantasiestadt, einer Mischung aus Los Angeles und San Francisco. Auf den Straßen fahren Autos, am Strand flanieren die TouristInnen, die Häuser sind realistisch eingerichtet und dekoriert. Die komplexe Simulation einer virtuellen Stadt baut sich nicht von selbst.
Verantwortlich sind Menschen, die all die virtuellen Objekte am Computer bauen und gestalten, die die Musik komponieren und die den Figuren des Spiels die Stimme leihen, die dem Computer einprogrammieren, wie die Simulation zu funktionieren hat. Hunderte Angestellte sind mehrere Jahre beschäftigt, um solche Projekte zu realisieren. Und während die Branche immer höhere Umsätze einfährt, werden diejenigen, die die virtuellen Welten tatsächlich zum Laufen bringen, ausgebeutet.
Crunchtime
Im Jahr 2004 ging die Frau eines Angestellten von Electronic Arts an die Öffentlichkeit: Ihr Mann werde seit Monaten dazu gedrängt, zwölf Stunden pro Tag – sechsmal die Woche – an seinem Projekt zu arbeiten. Als sich der Erscheinungstermin des Spiels näherte, wurde der freie Tag gestrichen, die zwölf Stunden Arbeit wurden zu 13-Stunden-Tagen. Betroffen war mehr oder weniger die ganze Belegschaft. Electronic Arts setzte seine Angestellten unter Druck statt mehr Leute einzustellen.
Diese Praxis – Crunchtime genannt – ist in der Videospieleindustrie eher die Regel als die Ausnahme. Wenige Jahre später gründeten Ehepartner von Angestellten des Rockstar-Studios eine Vereinigung, um sich über die Arbeitslast und -zeiten ihrer PartnerInnen und die zunehmenden familiären Folgen zu beschweren. Radikal geändert hat sich seitdem nichts. Und noch immer geben fast die Hälfte aller Befragten in einer Umfrage der International Game Developers Association (IDGA) an, regelmäßig bis zu 60, manchmal mehr als 80 Stunden pro Woche arbeiten zu müssen.
Angst vor Gewerkschaften
Die Ursachen für diesen Umstand sind leicht gefunden: Die erfolgreichen Spiele werden hauptsächlich in den USA und Kanada entwickelt. Gewerkschaften sind Tabu, lange Arbeitszeiten kein Problem. Das Durchschnittsalter in der Branche ist laut IDGA in den letzten zehn Jahren gleichgeblieben. Ältere überlassen das Feld den Jungen, die aufgrund der Karriereambitionen und mangels sonstiger Verantwortungen mit den Überbelastungen leben können. Die Firmen sind durch die fast ausschließlich jungen, männlichen Angestellten geprägt, die freiwillige Selbstausbeutung als notwendig und erstrebenswert erachten.
Anders sieht die Sache bei den SchauspielerInnen aus, die den virtuellen Figuren der Spiele ihre Stimme leihen. Sie stammen ursprünglich aus der Filmindustrie, die in den USA traditionell eine starke gewerkschaftliche Vertretung genießt. Vor wenigen Wochen wurde seitens der amerikanischen SAG-AFTRA-Gewerkschaft, die viele dieser SchauspielerInnen vertritt, ein Streik ausgerufen. Electronic Arts, Activision und andere reagierten mit einer Anti-Gewerkschafts-Website.
Das Signal zeigt: Die großen Konzerne haben Angst. Angst, dass bei einem erfolgreichen Streik die Praxis der gewerkschaftlichen Vertretung auch für ihre sonstigen Angestellten zunehmend attraktiver werden könnte. Und Angst, den Profit, den sie mit ihren virtuellen Welten machen, auch mit jenen zu teilen, die diese Welten bauen.
Michael Gruberbauer ist Redakteur der „Volksstimme“