Die Tarifautonomie unter Druck
- Donnerstag, 25. Juli 2013 @ 11:36
Im Schatten der Krise betreiben immer mehr EU-Länder einen massiven Umbau ihrer Tarifsysteme. Weil sie glauben, dadurch wettbewerbsfähiger und flexibler zu werden, zerstören sie Tarifvertragsstrukturen und greifen in die Tarifautonomie ein. Das Resultat: Firmen in Griechenland, Portugal und Italien müssen sich nicht mehr an tarifliche Löhne und Standards halten. Noch ist die Mehrheit der Beschäftigten in Europa durch tarifvertragliche Regelungen geschützt. Die Grundlage hierfür ist der Flächentarifvertrag, der ein wesentlicher Garant für das europäische Sozialmodell ist. Doch durch die europäische Schuldenkrise und die Spardiktate gerät der Flächentarifvertrag vor allem in süd- und mitteleuropäischen Ländern immer stärker unter Druck. Die treibende Kraft dahinter ist die sogenannte Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfond (IWF).
Die Troika diktiert die Bedingungen für Hilfskredite. Sollen Gelder an Krisenländer fließen, müssen sie umfangreiche "strukturelle Reformen" insbesondere auf dem Arbeitsmarkt vollziehen. Doch mit ihren Reformen und dem Kürzen treffen die Staaten nicht die Zocker und Finanzspekulanten. Sie treffen vor allem diejenigen, die die Krise nicht verursacht haben: die Beschäftigten, die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitslosen.
Und wo gehobelt wird, fallen auch schon mal Späne. Denn bei ihrem Reformeifer schießt so manche Regierung über das Sparziel hinaus und knöpft sich hier und da die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie vor. Weil sie glauben, ihre Betriebe wettbewerbsfähiger und flexibler machen zu können, bauen viele europäische Regierungen kurzerhand die Tarifvertragssysteme grundlegend um. Dabei schrecken sie nicht zurück, die Tarifverträge zu dezentralisieren sowie kollektive Arbeitnehmerrechte einzuschränken.
Innerhalb kürzester Zeit haben EU-Staaten mehr oder weniger offen die Tarifautonomie demontiert und gewachsene Flächentarifvertragsstrukturen zerstört. Bei ihrem radikalen Umbau der Tarifsysteme folgen fast alle Regierungen den neoliberalen Vorgaben der Troika. Danach stehen Tarifverträge generell unter Verdacht, die freie Marktwirtschaft zu behindern und Arbeitslosigkeit zu produzieren.
Nationale tarifliche Kahlschläge
In Griechenland und in Spanien haben die Regierungen das Günstigkeitsprinzipabgeschafft. Dieses Prinzip schreibt vor, dass Vereinbarungen nur dann vom Tarifvertrag abweichen dürfen, wenn sie für die Beschäftigten günstiger sind, wie zum Beispiel mehr Urlaub, mehr Entgelt oder weniger Arbeitszeit. Dadurch wirken Tarifverträge als Mindeststandards für Arbeitsbedingungen und Entgelte.
Die Praxis, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären, wurde in Griechenland, Ungarn, Portugal und in Rumänien eingeschränkt oder ganz eingestellt. Nach dieser Praxis können Gewerkschaften oder Arbeitgeber beim Arbeitsministerium beantragen, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Dieser gilt dann auch für alle nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Beschäftigte im Geltungsbereich des Tarifvertrags.
In Griechenland sollen Lohnerhöhungen erst dann wieder möglich sein, wenn die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent fällt. Sowohl in Griechenland als auch in Italien wurden Tarifverhandlungen stärker in die Betriebe verlagert. Des weiteren dürfen italienische Firmen weniger Lohn zahlen als der Tarifvertrag vorsieht. Kleine Betriebe müssen weniger Sozialabgaben zahlen.
In Spanien hat die Regierung den Kündigungsschutz aufgeweicht. Außerdem können spanische Unternehmen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und bei Umstrukturierungen die Löhne senken und die Arbeitszeit verändern, ohne dass Gewerkschaften zustimmen müssen. Kleine und mittlere Firmen dürfen eine Probezeit von einem Jahr einführen. Irland und Rumänien haben ihre Flächentarifverträge ganz abgeschafft oder für ungültig erklärt.
Die Regierung in Portugal hat die Löhne im öffentlichen Dienst drastisch gekürzt sowie vier Feiertage und drei Urlaubstage gestrichen. Portugiesische Firmen dürfen von Tarifverträgen abweichen und weniger Gehalt zahlen. Außerdem können sie ihre Leute einfacher entlassen. In einer Vielzahl der EU-Staaten beschlossen Regierungen Lohnstopps und Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor, ohne dass die Gewerkschaften gehört wurden.
Hohe Geldstrafen für steigende Löhne
Durch die massiven Einschnitte in die Tarifsysteme der Krisenstaaten ist zu befürchten, dass auch die Tarifautonomie in Nord- und Mittelwesteuropa unter Druck gerät. Die EU-Kommission nutzt die Krise, um Arbeitnehmerrechte abzubauen. Seit deren Beginn mischt sich die Kommission immer stärker in das Tarifgeschehen ein, obwohl die EU-Verträge das eindeutig ausschließen.
Mit dem "Mechanismus gegen makroökonomische Ungleichgewichte" hat sie Lohnobergrenzen festgelegt und die Länder zu einem "Euro-Plus-Pakt" verpflichtet. Steigen danach die Löhne in einem Land nach Ansicht der EU-Kommission zu schnell und unternimmt die jeweilige Regierung nichts dagegen, drohen hohe Geldstrafen. Damit will die Kommission die Tarifverhandlungen zunehmend in die Betriebe verlagern und die Gewerkschaften schwächen. Betriebliche Vereinbarungen sollen Flächentarifverträge ersetzen.
Die Angriffe auf die Tarifautonomie stoßen aber nicht nur bei Gewerkschaften auf Widerstand. Auch der Arbeitgeberverband BDA lehnt den Vorstoß aus Brüssel ab. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte sich für eine "Politik des leeren Stuhls" entschieden und am ersten EU-Treffen zur Lohnpolitik nicht teilgenommen. Eine "tripartite Lohnbeobachtungsgruppe", bestehend aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und Kommission, soll die Lohnpolitik der EU-Mitgliedsstaaten "koordinieren".
Es sei zwingend notwendig, dass die Gewerkschaften die "Lohnkoordinierung" nicht aus der Hand geben, sagt Horst Mund, Bereichsleiter für Internationale Gewerkschaftsarbeit der IG Metall. Denn wenn die Kommission künftig über Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen mitbestimmt, kommt das nur Aktionären und Arbeitgebern zugute. Der Großteil der Menschen müsste sinkende Einkommen hinnehmen.
"Wir wehren uns entschieden gegen Angriffe der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds auf unsere Tarifautonomie", erklärt Mund weiter. Für die IG Metall ist es deshalb wichtig, in Deutschland erkämpfte Errungenschaften zu verteidigen und zu nutzen, um Standards in anderen Ländern zu setzen. Dies kann beispielsweise über europäische und Welt-Betriebsräte sowie Internationale Rahmenabkommen geschehen.
Die Troika diktiert die Bedingungen für Hilfskredite. Sollen Gelder an Krisenländer fließen, müssen sie umfangreiche "strukturelle Reformen" insbesondere auf dem Arbeitsmarkt vollziehen. Doch mit ihren Reformen und dem Kürzen treffen die Staaten nicht die Zocker und Finanzspekulanten. Sie treffen vor allem diejenigen, die die Krise nicht verursacht haben: die Beschäftigten, die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitslosen.
Und wo gehobelt wird, fallen auch schon mal Späne. Denn bei ihrem Reformeifer schießt so manche Regierung über das Sparziel hinaus und knöpft sich hier und da die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie vor. Weil sie glauben, ihre Betriebe wettbewerbsfähiger und flexibler machen zu können, bauen viele europäische Regierungen kurzerhand die Tarifvertragssysteme grundlegend um. Dabei schrecken sie nicht zurück, die Tarifverträge zu dezentralisieren sowie kollektive Arbeitnehmerrechte einzuschränken.
Innerhalb kürzester Zeit haben EU-Staaten mehr oder weniger offen die Tarifautonomie demontiert und gewachsene Flächentarifvertragsstrukturen zerstört. Bei ihrem radikalen Umbau der Tarifsysteme folgen fast alle Regierungen den neoliberalen Vorgaben der Troika. Danach stehen Tarifverträge generell unter Verdacht, die freie Marktwirtschaft zu behindern und Arbeitslosigkeit zu produzieren.
Nationale tarifliche Kahlschläge
In Griechenland und in Spanien haben die Regierungen das Günstigkeitsprinzipabgeschafft. Dieses Prinzip schreibt vor, dass Vereinbarungen nur dann vom Tarifvertrag abweichen dürfen, wenn sie für die Beschäftigten günstiger sind, wie zum Beispiel mehr Urlaub, mehr Entgelt oder weniger Arbeitszeit. Dadurch wirken Tarifverträge als Mindeststandards für Arbeitsbedingungen und Entgelte.
Die Praxis, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären, wurde in Griechenland, Ungarn, Portugal und in Rumänien eingeschränkt oder ganz eingestellt. Nach dieser Praxis können Gewerkschaften oder Arbeitgeber beim Arbeitsministerium beantragen, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Dieser gilt dann auch für alle nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Beschäftigte im Geltungsbereich des Tarifvertrags.
In Griechenland sollen Lohnerhöhungen erst dann wieder möglich sein, wenn die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent fällt. Sowohl in Griechenland als auch in Italien wurden Tarifverhandlungen stärker in die Betriebe verlagert. Des weiteren dürfen italienische Firmen weniger Lohn zahlen als der Tarifvertrag vorsieht. Kleine Betriebe müssen weniger Sozialabgaben zahlen.
In Spanien hat die Regierung den Kündigungsschutz aufgeweicht. Außerdem können spanische Unternehmen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und bei Umstrukturierungen die Löhne senken und die Arbeitszeit verändern, ohne dass Gewerkschaften zustimmen müssen. Kleine und mittlere Firmen dürfen eine Probezeit von einem Jahr einführen. Irland und Rumänien haben ihre Flächentarifverträge ganz abgeschafft oder für ungültig erklärt.
Die Regierung in Portugal hat die Löhne im öffentlichen Dienst drastisch gekürzt sowie vier Feiertage und drei Urlaubstage gestrichen. Portugiesische Firmen dürfen von Tarifverträgen abweichen und weniger Gehalt zahlen. Außerdem können sie ihre Leute einfacher entlassen. In einer Vielzahl der EU-Staaten beschlossen Regierungen Lohnstopps und Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor, ohne dass die Gewerkschaften gehört wurden.
Hohe Geldstrafen für steigende Löhne
Durch die massiven Einschnitte in die Tarifsysteme der Krisenstaaten ist zu befürchten, dass auch die Tarifautonomie in Nord- und Mittelwesteuropa unter Druck gerät. Die EU-Kommission nutzt die Krise, um Arbeitnehmerrechte abzubauen. Seit deren Beginn mischt sich die Kommission immer stärker in das Tarifgeschehen ein, obwohl die EU-Verträge das eindeutig ausschließen.
Mit dem "Mechanismus gegen makroökonomische Ungleichgewichte" hat sie Lohnobergrenzen festgelegt und die Länder zu einem "Euro-Plus-Pakt" verpflichtet. Steigen danach die Löhne in einem Land nach Ansicht der EU-Kommission zu schnell und unternimmt die jeweilige Regierung nichts dagegen, drohen hohe Geldstrafen. Damit will die Kommission die Tarifverhandlungen zunehmend in die Betriebe verlagern und die Gewerkschaften schwächen. Betriebliche Vereinbarungen sollen Flächentarifverträge ersetzen.
Die Angriffe auf die Tarifautonomie stoßen aber nicht nur bei Gewerkschaften auf Widerstand. Auch der Arbeitgeberverband BDA lehnt den Vorstoß aus Brüssel ab. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte sich für eine "Politik des leeren Stuhls" entschieden und am ersten EU-Treffen zur Lohnpolitik nicht teilgenommen. Eine "tripartite Lohnbeobachtungsgruppe", bestehend aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und Kommission, soll die Lohnpolitik der EU-Mitgliedsstaaten "koordinieren".
Es sei zwingend notwendig, dass die Gewerkschaften die "Lohnkoordinierung" nicht aus der Hand geben, sagt Horst Mund, Bereichsleiter für Internationale Gewerkschaftsarbeit der IG Metall. Denn wenn die Kommission künftig über Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen mitbestimmt, kommt das nur Aktionären und Arbeitgebern zugute. Der Großteil der Menschen müsste sinkende Einkommen hinnehmen.
"Wir wehren uns entschieden gegen Angriffe der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds auf unsere Tarifautonomie", erklärt Mund weiter. Für die IG Metall ist es deshalb wichtig, in Deutschland erkämpfte Errungenschaften zu verteidigen und zu nutzen, um Standards in anderen Ländern zu setzen. Dies kann beispielsweise über europäische und Welt-Betriebsräte sowie Internationale Rahmenabkommen geschehen.