Der digitale Darwinismus
- Mittwoch, 12. Juli 2017 @ 11:34
Michael Gruberbauer über Industrie 4.0
Die Nostalgie für das »Goldene Zeitalter des Kapitalismus« ist verständlich. Zumindest in Europa, unterstützt durch progressive Besteuerung und den Sozialstaat, gelang das Experiment »Soziale Marktwirtschaft« für ein paar Jahrzehnte. Für große Teile der eigenen Bevölkerung stieg der Lebensstandard. Die Fabrikarbeit war dadurch nicht weniger beschwerlich, wurde aber in Kauf genommen. Reglementierungen und ArbeitnehmerInnenrechte halfen dabei. Aber die Gesetze des Kapitalismus wirkten im Hintergrund an der Zersetzung dieses Zustands. Nun ist die Katze aus dem Sack: Der hegemoniale Neoliberalismus und die Digitalisierung schaffen eine neue Welt.
Neuer Taylorismus
Die industrielle Revolution geht als »Industrie 4.0« in die nächste Runde. Automatisierung soll in endgültiger Form das Licht der Welt erblicken. Bisherige Schritte wirken wie unsichere Krabbelversuche. Das neue Wirtschaften will die Vernetzung von allem, was produktiv und profitabel ist, realisieren. Möglich wird dies durch die elektronische Auswertung von weltweit gewonnenen Daten in Echtzeit. Das Just-in-Time-Prinzip soll von der Gewinnung von Rohstoffen bis zur endgültigen Preisgestaltung, vorherrschen. Traditionelle ArbeiterInnen werden überflüssig. Industriellenvereinigung jubelt.
Erste Auswirkungen werden sichtbar: Elektronische Preisschilder in Supermärkten passen Preise im Minutentakt dem Lagerbestand, der Nachfrage und der Konkurrenz an. Bestellautomaten im Fastfood-Restaurant oder vollautomatische Kassen ersetzen menschliche Arbeitskraft. Selbstfahrende Autos werden zur Marktreife gebracht und befreien den Transportsektor vom Menschen.
Prinzip Überwachung
Der Handelsgigant Amazon verwendet schon heute riesige Datenmengen zur Optimierung des Geschäfts: Computeralgorithmen überwachen die BenutzerInnen, die Nachrichten und sogar die Wetterdaten, um die Bedürfnisse der Kundschaft kurzfristig vorauszusagen. Eine kommende Hitzewelle führt zu Preisaktionen bei Klimageräten, Sonnenmilch oder Badebekleidung. In der Utopie der Industrie 4.0 werden diese höher angefragten Waren dann quasi-vollautomatisch hergestellt, den Handelsketten zugeteilt und in deren datengesteuerte Lager transportiert. Auch der Transport zu den EndverbraucherInnen soll mittels Zustelldrohnen automatisiert werden.
Dadurch wird das wichtigste Prinzip sichtbar: Nur mit absoluter Überwachung kann Industrie 4.0 ihr Potenzial entfalten. Frederick Taylor machte sich schon vor hundert Jahren die Optimierung der menschlichen Arbeitsabläufe in Fabriken zum Ziel. Auch er hat dazu vor allem überwacht: Jeder Arbeitsschritt wurde dem Diktat der Stoppuhr unterworfen.
Der Taylorismus sorgte nicht nur für Steigerungen in der Produktivität, sondern auch für eine neue Größenordnung der Entfremdung am Arbeitsplatz. Die Industrie 4.0 will dieses Prinzip zum allgemeinen Gesetz der Algorithmen erheben. Datenströme und Computergehirne ersetzen dabei nicht nur die Taylors Stoppuhr, sondern gleich auch ihn selbst und seine ArbeiterInnen. Überwacht werden nicht (nur) die ArbeiterInnen, sondern schlichtweg alles, was sich überwachen lässt.
Digitaler Darwinismus
Je nach Studie heißt es: Zwischen einem Viertel oder mehr als die Hälfte aller Tätigkeiten in entwickelten Industriestaaten seien »substituierbar«. Das betrifft den Lagerarbeiter genauso wie die Journalistin. Andere wiederum beschwichtigen: Man könne automatisierte Abläufe nicht eins zu eins in verlorene Arbeitsplätze umrechnen. Laut einer OECD-Studie führe zum Beispiel die Automatisierung von ca. 40 Prozent aller Tätigkeiten lediglich zu 12 Prozent gestrichenen Arbeitsplätzen. Außerdem würden weiterhin auch ganz neue Arbeitsplätze entstehen.
Ob es genug davon geben wird (zum Beispiel jene zwölf Prozent, die verloren gehen), steht auf einem anderen Blatt. Wer profitiert, liegt auf der Hand. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen PwC ermittelte in einer Befragung von 100 Industrieunternehmen in Österreich, was man sich dort von der Industrie 4.0 erwartet: 15 Milliarden Euro Mehrumsatz bis 2020, zweistelliges Wachstum und Umsatzsteigerungen von über 20 Prozent.
Fragt sich, wer den »Output« der Industrie 4.0 konsumieren soll, wenn so viele Lohnabhängige aus den Unternehmen wegrationalisiert werden und der Druck auf die verbliebenen Beschäftigten der Gesetzmäßigkeit nach steigen wird (zum Beispiel mit einem 12-Stunden-Tag und niedrigeren Löhnen, die weniger Zeit und Geld zum Konsumieren lassen).
Das Sozialsystem in seiner aktuellen Form wird es nicht schaffen, den neuen Arbeitslosen die Kaufkraft dafür zu liefern (oder ihre Grundversorgung sicherzustellen), wenn die Wertschöpfung zunehmend vom Einkommen der ArbeiterInnen entkoppelt wird. Es geht in Richtung digitaler Darwinismus – eine explosive Situation. Es wundert nicht, dass selbst Turbokapitalisten an die Notwendigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens denken.
Michael Gruberbauer ist Redakteur der „Volksstimme“
Die Nostalgie für das »Goldene Zeitalter des Kapitalismus« ist verständlich. Zumindest in Europa, unterstützt durch progressive Besteuerung und den Sozialstaat, gelang das Experiment »Soziale Marktwirtschaft« für ein paar Jahrzehnte. Für große Teile der eigenen Bevölkerung stieg der Lebensstandard. Die Fabrikarbeit war dadurch nicht weniger beschwerlich, wurde aber in Kauf genommen. Reglementierungen und ArbeitnehmerInnenrechte halfen dabei. Aber die Gesetze des Kapitalismus wirkten im Hintergrund an der Zersetzung dieses Zustands. Nun ist die Katze aus dem Sack: Der hegemoniale Neoliberalismus und die Digitalisierung schaffen eine neue Welt.
Neuer Taylorismus
Die industrielle Revolution geht als »Industrie 4.0« in die nächste Runde. Automatisierung soll in endgültiger Form das Licht der Welt erblicken. Bisherige Schritte wirken wie unsichere Krabbelversuche. Das neue Wirtschaften will die Vernetzung von allem, was produktiv und profitabel ist, realisieren. Möglich wird dies durch die elektronische Auswertung von weltweit gewonnenen Daten in Echtzeit. Das Just-in-Time-Prinzip soll von der Gewinnung von Rohstoffen bis zur endgültigen Preisgestaltung, vorherrschen. Traditionelle ArbeiterInnen werden überflüssig. Industriellenvereinigung jubelt.
Erste Auswirkungen werden sichtbar: Elektronische Preisschilder in Supermärkten passen Preise im Minutentakt dem Lagerbestand, der Nachfrage und der Konkurrenz an. Bestellautomaten im Fastfood-Restaurant oder vollautomatische Kassen ersetzen menschliche Arbeitskraft. Selbstfahrende Autos werden zur Marktreife gebracht und befreien den Transportsektor vom Menschen.
Prinzip Überwachung
Der Handelsgigant Amazon verwendet schon heute riesige Datenmengen zur Optimierung des Geschäfts: Computeralgorithmen überwachen die BenutzerInnen, die Nachrichten und sogar die Wetterdaten, um die Bedürfnisse der Kundschaft kurzfristig vorauszusagen. Eine kommende Hitzewelle führt zu Preisaktionen bei Klimageräten, Sonnenmilch oder Badebekleidung. In der Utopie der Industrie 4.0 werden diese höher angefragten Waren dann quasi-vollautomatisch hergestellt, den Handelsketten zugeteilt und in deren datengesteuerte Lager transportiert. Auch der Transport zu den EndverbraucherInnen soll mittels Zustelldrohnen automatisiert werden.
Dadurch wird das wichtigste Prinzip sichtbar: Nur mit absoluter Überwachung kann Industrie 4.0 ihr Potenzial entfalten. Frederick Taylor machte sich schon vor hundert Jahren die Optimierung der menschlichen Arbeitsabläufe in Fabriken zum Ziel. Auch er hat dazu vor allem überwacht: Jeder Arbeitsschritt wurde dem Diktat der Stoppuhr unterworfen.
Der Taylorismus sorgte nicht nur für Steigerungen in der Produktivität, sondern auch für eine neue Größenordnung der Entfremdung am Arbeitsplatz. Die Industrie 4.0 will dieses Prinzip zum allgemeinen Gesetz der Algorithmen erheben. Datenströme und Computergehirne ersetzen dabei nicht nur die Taylors Stoppuhr, sondern gleich auch ihn selbst und seine ArbeiterInnen. Überwacht werden nicht (nur) die ArbeiterInnen, sondern schlichtweg alles, was sich überwachen lässt.
Digitaler Darwinismus
Je nach Studie heißt es: Zwischen einem Viertel oder mehr als die Hälfte aller Tätigkeiten in entwickelten Industriestaaten seien »substituierbar«. Das betrifft den Lagerarbeiter genauso wie die Journalistin. Andere wiederum beschwichtigen: Man könne automatisierte Abläufe nicht eins zu eins in verlorene Arbeitsplätze umrechnen. Laut einer OECD-Studie führe zum Beispiel die Automatisierung von ca. 40 Prozent aller Tätigkeiten lediglich zu 12 Prozent gestrichenen Arbeitsplätzen. Außerdem würden weiterhin auch ganz neue Arbeitsplätze entstehen.
Ob es genug davon geben wird (zum Beispiel jene zwölf Prozent, die verloren gehen), steht auf einem anderen Blatt. Wer profitiert, liegt auf der Hand. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen PwC ermittelte in einer Befragung von 100 Industrieunternehmen in Österreich, was man sich dort von der Industrie 4.0 erwartet: 15 Milliarden Euro Mehrumsatz bis 2020, zweistelliges Wachstum und Umsatzsteigerungen von über 20 Prozent.
Fragt sich, wer den »Output« der Industrie 4.0 konsumieren soll, wenn so viele Lohnabhängige aus den Unternehmen wegrationalisiert werden und der Druck auf die verbliebenen Beschäftigten der Gesetzmäßigkeit nach steigen wird (zum Beispiel mit einem 12-Stunden-Tag und niedrigeren Löhnen, die weniger Zeit und Geld zum Konsumieren lassen).
Das Sozialsystem in seiner aktuellen Form wird es nicht schaffen, den neuen Arbeitslosen die Kaufkraft dafür zu liefern (oder ihre Grundversorgung sicherzustellen), wenn die Wertschöpfung zunehmend vom Einkommen der ArbeiterInnen entkoppelt wird. Es geht in Richtung digitaler Darwinismus – eine explosive Situation. Es wundert nicht, dass selbst Turbokapitalisten an die Notwendigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens denken.
Michael Gruberbauer ist Redakteur der „Volksstimme“