Buurtzorg – ein völlig neuer Ansatz
- Mittwoch, 12. Juli 2017 @ 11:28
Heike Fischer zum Thema mobile Pflege
Pflege und Betreuung sind gesellschaftlich notwendige Arbeit, die niemals erledigt sein wird. Im Gegenteil steigt der Bedarf durch demografischen Wandel, längere Lebensspanne im Alter oder Veränderung von Familienstrukturen. Pflege und Betreuung in der bisherigen Form sind unter Druck geraten, werden zunehmend vermarktlicht und der Effizienz untergeordnet. Kosteneinsparung plus Effizienzsteigerung ergibt die bestmögliche Pflege gab der Rechnungshof vor 20 Jahren vor und limitierte die Leistungen zeitlich. So darf eine Inkontinenzversorgung am Pflegebedürftigen maximal fünf Minuten, ein Vollbad maximal zehn bis 15 Minuten dauern.
Dass viele zu Pflegende in alten Wohnungen leben, wo es schon mal zehn Minuten dauert, bis die Badewanne mit Wasser gefüllt ist, spielt dabei keine Rolle. Alles muss rasch gehen: warm-satt-sauber. Der pflegebedürftige Mensch bleibt auf der Strecke, Zeit für Zuwendung oder ein nettes Gespräch zählen nicht als bewertbare Leistungen.
Pflegepersonal im Dilemma
Nicht nur müssen abzurechnende Leistungen wie im Hamsterrad erledigt werden. Laut Normkostenmodell sollen die Beschäftigten billig bleiben, möglichst wenige Berufsjahre aufweisen und flexibel rund um die Uhr einsetzbar sein. Ihr Kampf um regelmäßige Dienstpläne ist ein Dauerbrenner. Ethik, Erfüllung und Soziales an der Pflegearbeit sind dem Kostendruck gewichen.
Die Forderungen des Rechnungshofes haben nicht die erhofften Kosteneinsparungen gebracht, sondern das Gegenteil vom Ziel des von neoliberaler Machtideologie geprägten Pflegesystem – mit Absinken der Pflegequalität und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
Ein neues Modell könnte Abhilfe schaffen. Buurtzorg – Betreuung in der Nachbarschaft – ist eine Non-Profit-Organisation aus den Niederlanden und derzeit auch in Österreich in aller Munde – bei Politikern, Anbietervereinen mobiler Pflegeleistungen, Gewerkschaften oder Beschäftigten. In Holland hat sich Buurtzorg durch einen ganzheitlichen Pflegeansatz mit hohen Qualitätsstandards in zehn Jahren zum größten Anbieter mobiler Pflege entwickelt.
Der Kern sind selbstverantwortliche Pflegekräfte-Teams, die durch nachbarschaftliche Netzwerke die Pflegebedürftigen versorgen. Eine kosteneffiziente Verwaltung führt zu mehr Geld und Zeitressourcen für die Pflegearbeit.
Teams mit bis zu zwölf Pflegekräften organisieren sich den Pflegeprozess von Bedarfserhebung über Arbeitsplanung, Aufnahme neuer MitarbeiterInnen, Aufbau von Netzwerken, Weiterbildung und Entwicklung innovativer Projekte selbst. Voraussetzung für die hohe Autonomie ist, dass Buurtzorg nach Zeit statt nach Pflegeleistungen abrechnet.
Die Bedarfserhebung erfolgt nicht mehr von Organisation, sondern in den Teams. Kompetenzen werden effektiv genutzt und ermöglichen die Übernahme breit gefächerter Pflegeaufgaben nach konkretem Bedarf. Durch eigenverantwortliche Gestaltung kommt Buurtzorg ohne mittleres Management aus. Die Kosteneinsparungen sind beachtlich.
Wer in Österreich langjährig in der Pflege arbeitet, wird möglicherweise einwenden: „So war das doch bei uns auch früher. Wir haben uns im Team zusammengeredet und unsere Arbeit gemacht. Die Pflegedienstleitung nach Dienstplan und Vorschriften kamen erst viel später. Und früher war auch Zeit mit KlientInnen zu reden und sie liebevoller zu begleiten.“ Genauso ist es.
Föderale Strukturen, eine undurchschaubare Abrechnungslogik und niedrige staatliche Ausgaben für professionelle Pflege sind zum Hemmnis geworden. Buurtzorg überzeugt als Gegenmodell zum neoliberalen Mainstream, der sich im Pflegesektor nachteilig auf die Qualität von Arbeit und Pflege auswirkt. Durch eine transparente Organisationsstruktur werden mehr Zeit- und Geldressourcen für die eigentliche Pflege möglich.
Buurtzorg wurde im Mai 2017 in Wien durch Geschäftsführer Jos de Blok vorgestellt. Geladen waren bundesweit VertreterInnen von ÖGB und AK, Führungskräfte und BetriebsrätInnen aus dem Pflegebereich. Das Gesamtkonzept der Wirtschaftlichkeit und zum Nutzen der Pflegebedürftigen scheint zu überzeugen. In der Diskussion ging es jedoch verstärkt um Fragen, die angestellte Pflegekräfte betreffen.
Wie gelingt im Teams eine faire Verteilung der Arbeit? Wie können Pflegekräfte vor Selbstausbeutung geschützt werden? Hier wurde auf die Freiheit der Teams verwiesen. Das ist aber zu wenig. Ist doch bekannt, dass sich gerade in Teams dieser Größe eine Dynamik entwickelt und es Gewinner und Verlierer gibt. Also doch eine hierarchische Struktur?
Auch Fragen zur Arbeitsbereitschaft in der Nacht und am Wochenende oder zu schwankendem Arbeitsbedarf wurden unzureichend beantwortet. Lapidar: Das regeln sich die Teams selbst.
Pilotprojekte wie Buurtzorg in Österreich sind sicherlich nicht verkehrt. Auch die Idee „wirtschaftlich, klientenfreundlich, teamorientiert“ (Jos de Blok) ist zu begrüßen. Doch wir müssen wachsam sein, bei der konzeptionellen Entwicklung intensiv mitgestalten, damit die Waagschale nicht nach unten driftet und angestellte Pflegekräfte eine weitere Bruchlandung erleben.
Heike Fischer ist Diplompädagogin und Betriebsratsvorsitzende im Diakonie Zentrum Spattstraße Linz und GLB-Landesvorsitzende in OÖ
Pflege und Betreuung sind gesellschaftlich notwendige Arbeit, die niemals erledigt sein wird. Im Gegenteil steigt der Bedarf durch demografischen Wandel, längere Lebensspanne im Alter oder Veränderung von Familienstrukturen. Pflege und Betreuung in der bisherigen Form sind unter Druck geraten, werden zunehmend vermarktlicht und der Effizienz untergeordnet. Kosteneinsparung plus Effizienzsteigerung ergibt die bestmögliche Pflege gab der Rechnungshof vor 20 Jahren vor und limitierte die Leistungen zeitlich. So darf eine Inkontinenzversorgung am Pflegebedürftigen maximal fünf Minuten, ein Vollbad maximal zehn bis 15 Minuten dauern.
Dass viele zu Pflegende in alten Wohnungen leben, wo es schon mal zehn Minuten dauert, bis die Badewanne mit Wasser gefüllt ist, spielt dabei keine Rolle. Alles muss rasch gehen: warm-satt-sauber. Der pflegebedürftige Mensch bleibt auf der Strecke, Zeit für Zuwendung oder ein nettes Gespräch zählen nicht als bewertbare Leistungen.
Pflegepersonal im Dilemma
Nicht nur müssen abzurechnende Leistungen wie im Hamsterrad erledigt werden. Laut Normkostenmodell sollen die Beschäftigten billig bleiben, möglichst wenige Berufsjahre aufweisen und flexibel rund um die Uhr einsetzbar sein. Ihr Kampf um regelmäßige Dienstpläne ist ein Dauerbrenner. Ethik, Erfüllung und Soziales an der Pflegearbeit sind dem Kostendruck gewichen.
Die Forderungen des Rechnungshofes haben nicht die erhofften Kosteneinsparungen gebracht, sondern das Gegenteil vom Ziel des von neoliberaler Machtideologie geprägten Pflegesystem – mit Absinken der Pflegequalität und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
Ein neues Modell könnte Abhilfe schaffen. Buurtzorg – Betreuung in der Nachbarschaft – ist eine Non-Profit-Organisation aus den Niederlanden und derzeit auch in Österreich in aller Munde – bei Politikern, Anbietervereinen mobiler Pflegeleistungen, Gewerkschaften oder Beschäftigten. In Holland hat sich Buurtzorg durch einen ganzheitlichen Pflegeansatz mit hohen Qualitätsstandards in zehn Jahren zum größten Anbieter mobiler Pflege entwickelt.
Der Kern sind selbstverantwortliche Pflegekräfte-Teams, die durch nachbarschaftliche Netzwerke die Pflegebedürftigen versorgen. Eine kosteneffiziente Verwaltung führt zu mehr Geld und Zeitressourcen für die Pflegearbeit.
Teams mit bis zu zwölf Pflegekräften organisieren sich den Pflegeprozess von Bedarfserhebung über Arbeitsplanung, Aufnahme neuer MitarbeiterInnen, Aufbau von Netzwerken, Weiterbildung und Entwicklung innovativer Projekte selbst. Voraussetzung für die hohe Autonomie ist, dass Buurtzorg nach Zeit statt nach Pflegeleistungen abrechnet.
Die Bedarfserhebung erfolgt nicht mehr von Organisation, sondern in den Teams. Kompetenzen werden effektiv genutzt und ermöglichen die Übernahme breit gefächerter Pflegeaufgaben nach konkretem Bedarf. Durch eigenverantwortliche Gestaltung kommt Buurtzorg ohne mittleres Management aus. Die Kosteneinsparungen sind beachtlich.
Wer in Österreich langjährig in der Pflege arbeitet, wird möglicherweise einwenden: „So war das doch bei uns auch früher. Wir haben uns im Team zusammengeredet und unsere Arbeit gemacht. Die Pflegedienstleitung nach Dienstplan und Vorschriften kamen erst viel später. Und früher war auch Zeit mit KlientInnen zu reden und sie liebevoller zu begleiten.“ Genauso ist es.
Föderale Strukturen, eine undurchschaubare Abrechnungslogik und niedrige staatliche Ausgaben für professionelle Pflege sind zum Hemmnis geworden. Buurtzorg überzeugt als Gegenmodell zum neoliberalen Mainstream, der sich im Pflegesektor nachteilig auf die Qualität von Arbeit und Pflege auswirkt. Durch eine transparente Organisationsstruktur werden mehr Zeit- und Geldressourcen für die eigentliche Pflege möglich.
Buurtzorg wurde im Mai 2017 in Wien durch Geschäftsführer Jos de Blok vorgestellt. Geladen waren bundesweit VertreterInnen von ÖGB und AK, Führungskräfte und BetriebsrätInnen aus dem Pflegebereich. Das Gesamtkonzept der Wirtschaftlichkeit und zum Nutzen der Pflegebedürftigen scheint zu überzeugen. In der Diskussion ging es jedoch verstärkt um Fragen, die angestellte Pflegekräfte betreffen.
Wie gelingt im Teams eine faire Verteilung der Arbeit? Wie können Pflegekräfte vor Selbstausbeutung geschützt werden? Hier wurde auf die Freiheit der Teams verwiesen. Das ist aber zu wenig. Ist doch bekannt, dass sich gerade in Teams dieser Größe eine Dynamik entwickelt und es Gewinner und Verlierer gibt. Also doch eine hierarchische Struktur?
Auch Fragen zur Arbeitsbereitschaft in der Nacht und am Wochenende oder zu schwankendem Arbeitsbedarf wurden unzureichend beantwortet. Lapidar: Das regeln sich die Teams selbst.
Pilotprojekte wie Buurtzorg in Österreich sind sicherlich nicht verkehrt. Auch die Idee „wirtschaftlich, klientenfreundlich, teamorientiert“ (Jos de Blok) ist zu begrüßen. Doch wir müssen wachsam sein, bei der konzeptionellen Entwicklung intensiv mitgestalten, damit die Waagschale nicht nach unten driftet und angestellte Pflegekräfte eine weitere Bruchlandung erleben.
Heike Fischer ist Diplompädagogin und Betriebsratsvorsitzende im Diakonie Zentrum Spattstraße Linz und GLB-Landesvorsitzende in OÖ