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Offener Brief an die GewerkschafterInnen im Nationalrat und Bundesrat

  • Samstag, 17. November 2007 @ 09:10
Aktionen Liebe Kollegin, lieber Kollege!

Der von einem Konvent erarbeitete Entwurf für eine Europäischen Verfassung ist 2005 an den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Dieses Scheitern wurde jedoch nicht zu einem Umdenken genützt, sondern der alte Inhalt mit geringen Abstrichen als „Vertrag von Lissabon“ neu aufgelegt. Auch dieser Vertrag orientiert auf die Entwicklung der EU zu einer ökonomischen, politischen und militärischen Supermacht mit globalen Ambitionen ähnlich den USA. Durch die Ausweitung des Mehrheitsprinzips und andere Maßnahmen bedeutet der Vertrag einen noch weitergehenden Eingriff in die österreichische Bundesverfassung. Dessen ungeachtet wurde der Entwurf der damaligen EU-Verfassung 2005 in Österreich nicht einer Volksabstimmung unterzogen wie das der ÖGB im Herbst 2004 verlangt hatte, sondern lediglich durch Parlamentsbeschluß sanktioniert. Eine breite Information und Debatte in der Öffentlichkeit wurde damit verweigert, gleiches gilt auch für die bisherige Vorgangsweise bei der Ratifizierung des EU-Vertrages. Dass durch eine solche Verweigerungspolitik das Unbehagen über die EU und die Politik im allgemeinen weiter zunimmt, ist nicht verwunderlich.

Wesentliche Kennzeichen des Vertrages sind die Entwicklung der EU zu einer Militärunion durch Verankerung einer Euro-Armee als Interventionstruppe sowie der Zwang zur Aufrüstung durch Einrichtung einer Rüstungsagentur, eine Zentralisierung politischer Entscheidungen verbunden mit der Möglichkeit eines „Kerneuropa“ unter Führung Deutschlands und Frankreichs, aber auch die Festschreibung des neoliberalen Wirtschaftsmodells zusätzlich zur Verankerung der vier Grundfreiheiten, des Binnenmarkts und der Liberalisierung und Deregulierung aller Bereiche.

Bereits jetzt sind – mit Zustimmung der österreichischen Regierung und des Parlaments – rund 80 Prozent der Kompetenzen EU-Mitgliedsländer an die EU-Ebene abgegeben worden. Während durch den EU-Vertrag die nationalen Parlamente weiter an Bedeutung verlieren, bleiben dem EU-Parlament auch künftig Gesetzgebung und Bestellung der Exekutive vorenthalten. Das bedeutet de facto eine Verlagerung aller wesentlichen Entscheidungen in einen demokratiefreien Raum die dem Trend zu einer Ökonomisierung der Politik durch Unterordnung unter selbstgeschaffene Sachzwänge und Spielregeln des „freien Markts“ entspricht.

Auch aus der Sicht der Lohnabhängigen und der Gewerkschaften gibt es eine starke Betroffenheit durch diesen Vertrag: Die Realisierung der als Schritt zu einem „sozialen Europa“ interpretierte Charta der Grundrechte wird durch die ökonomischen Vorgaben, die Auflagen zur nachhaltigen Budgetsanierung und den Zwang zur Aufrüstung unterlaufen. Die Liberalisierung der öffentlichen Dienste bedeutet einen massiven Angriff auf elementare Bereiche der Grundversorgung.

Für Lohnabhängige, Erwerbsarbeitslose und Prekarisierte bedeutet der EU-Vertrag vor allem aber die Legitimierung eines verstärkten Druckes auf Arbeitsplätze, Einkommen, Sozialleistungen und Mitbestimmung. Schon aus diesen Gesichtspunkten ist eine umfassende und gründliche Auseinandersetzung damit notwendig. Gerade die Gewerkschaften müssen sich mit dem Inhalt des EU-Vertrages kritisch auseinandersetzen und die darin verankerten Ziele mit den Interessen der von ihnen vertretenen Menschen abwägen.

Liebe Kollegin, lieber Kollege! Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung des EU-Vertrages von Lissabon, der de facto den Charakter einer Verfassung hat, halten wir eine breite öffentliche Meinungsbildung und Entscheidung über diesen Vertrag für notwendig. Wir fordern weiters Regierung und Parlament auf, den EU-Vertrag angesichts seiner weit reichenden Bedeutung durch Mitsprache der Bevölkerung einer Volksabstimmung zu unterziehen. Die GewerkschafterInnen im Nationalrat und Bundesrat fordern wir auf, in diesem Sinne initiativ zu werden.

GLB-Bundesleitung 17. November 2007