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Wie ein Esel hinter der Karotte herlaufen

  • Freitag, 31. August 2007 @ 17:05
Meinung Von Lutz Holzinger

Arbeit als Verteilungsfrage. Eines der Erfolgsrezepte der kapitalistischen Wirtschaft besteht darin, dass sie ihre falschen Glücksversprechen einlöst, indem sie Menschen wie den sprichwörtlichen Esel behandelt. Wie das Tier mit den langen Ohren hinter der Karotte her ist, die ihm vor die Nase gehalten wird, erfüllt der Mensch die Anforderungen der Kapitalverwertung im Irrglauben, eigene Wünsche zu realisieren. Wer seine Ziele unmittelbar vor ihrer Erfüllung wähnt, denkt nicht daran und wird sich nicht anstrengen, sie auf anderen Wegen zu erreichen.

Vollbeschäftigung ist im Kapitalismus ein Betriebsunfall

Das ist die ganze Herrschaftskunst der Bourgeoisie. Nach der objektiven Proletarisierung aller Lebensbereiche, die allerdings nicht die Herrschafts- und Besitzverhältnisse aufgelöst hat, ist es längst an der Zeit, neue gesellschaftliche Saiten aufzuziehen.

Die Zahl der Arbeitslosen in und außerhalb Österreichs kann gar nicht groß genug sein, ohne dass Berufspolitiker eilfertig Vollbeschäftigung in Aussicht stellen. Diese Perspektive gibt es nicht; sie ist - gelogen. Denn ein Grundmuster des kapitalistischen Verwertungsprozesses besteht darin, lebendige fortlaufend durch tote Arbeit zu ersetzen.

Vollbeschäftigung ist im Kapitalismus eher ein Betriebsunfall als ein typischer Aggregatzustand. Zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung war beispielsweise für die Handweber spontan einsichtig, dass ihnen von den Betreibern der Spinnautomaten Arbeit und Brot weggenommen wurde. Eine Folge wären weit verbreitete Akte der Maschinenstürmer.

Heute ist dieser Zusammenhang aus viel feinerem Garn gewirkt und schwieriger zu erkennen, gleichzeitig aber umso massiver wirksam. Die lebendige Arbeitskraft der Werktätigen wirkt im Verwertungsprozess des Industriekapitals fortlaufend ein auf die von den Unternehmern bereitgestellten Produktionsmitteln - in erster Linie Arbeitsgegenstände (in Form von Rohstoffen und /oder Vorprodukten) einerseits und Arbeitsmittel (in Form Werkzeugen, Maschinerie, Automaten) andererseits. Beide sind in der Regel Ergebnis bereits in der Vergangenheit erledigter Arbeitsprozesse, in denen notwendiger Weise bestimmte Quanten lebendiger Arbeit aufgehoben sind.

Geht der volle Wert der Arbeitsgegenstände im Produktionsprozess sofort zur Gänze in das Endprodukt ein, so fließt der Kapitalvorschuss für die Produktionsanlagen und Arbeitsmittel in kleinen Portionen an die Unternehmer zurück. (Dadurch entsteht vorübergehend zwangsläufig eine Kapitalreserve, die heute bevorzugt an der Börse eingesetzt wird.)

Erst wenn die für die Produktionsmittel aufgewendeten Investitionen nach und nach zusammen gesammelt und die Anlagen materiell oder moralisch verschlissen sind, wird neuerlich und zwar normalerweise in größerem Umfang und auf höherem technische Niveau investiert.

So gesehen, haben die hunderten Schlosser, die früher in den mechanischen Abteilungen der Metall verarbeitenden Großbetriebe quasi in Reihe und Glied tätig wären, sich selbst abgeschafft. Sie haben den gesellschaftlichen Reichtum aus sich heraus gearbeitet, der für die Beschaffung der numerisch gesteuerten Bearbeitungsautomaten auf breiter Stufenleiter erforderlich war, um sie zu ersetzen. Der Einsatz dieser Automaten hat daraufhin das Gros der Facharbeiter verdrängt und ihre Spezialkenntnisse schlagartig entwertet.

Ohne soziale Gerechtigkeit gib es keine Demokratie

Die im Betrieb verbliebenen Kräfte sind zu Betreuern dieser Automaten geworden und für die Einstellung, den Wechsel der Werkzeuge, das Einlegen und Entnehmen der Arbeitsgegenstände und die Wartung der Anlagen verantwortlich. Statt wie früher in einem Kollektiv, wird nun weitgehend isoliert gearbeitet.

Standen die Drehbänke in Gesprächsweite in einer Reihe, bedient oder betreut heute ein Mensch allein auf weiter Flur mehrere Produktionsautomaten gleichzeitig. Massierter Einsatz lebendiger Arbeitskräfte findet in der Industrieproduktion lediglich in Abschnitten statt, in denen die Automation sich noch nicht rechnet.

Die Tendenz ist unübersehbar, dass eine Konsequenz der Anwendung menschlicher Arbeitskraft im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in ihrer systematischen Abschaffung besteht, sofern nicht gleichzeitig engagiert um die Verkürzung der Arbeitszeit gekämpft wird. Das Bewusstsein über die Konstruktionsmängel des Kapitalismus war freilich bereits wesentlich stärker ausgebildet, bevor Faschismus und Nationalsozialismus Europa beinahe in den Abgrund gerissen haben. Das Wiedererstehen des abgewirtschafteten kapitalistischen Gesellschaftssystems war nach Ende des 2. Weltkriegs nur auf der Basis massiver Kompromisse mit antifaschistisch gewendeten Verfassungen als Kern möglich.

Luciano Canfora zitiert in „Eine kurze Geschichte der Demokratie“ einen der Väter der am 1. Jänner 1948 angenommen italienischen Verfassung. Danach habe es sich bei den antifaschistischen Verfassungen, die für Westeuropa typisch waren, um „Streitschriften“ gehandelt, weil sie „die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage stellen“.

Im Anschluss daran zitiert er den von Lelio Basso erarbeiteten „umstürzlerischsten“ dritten Verfassungsartikel: „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch faktische Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der Person und der wirksamen Teilnahme aller arbeitenden Menschen an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen.“ (S. 259) In einer Interpretation dieses Artikels hält Basso laut Canfora fest: „In ihm wird festgestellt, dass keine Demokratie herrscht, solange es wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten gibt.“

Offenkundig geht die soziale Stoßrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg auf die Bemühung der herrschenden Klasse zurück, den als Marktwirtschaft maskierten Kapitalismus, trotz der verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit und der Zusammenarbeit mit Faschismus und Nationalsozialismus aufrecht zu erhalten.

Dazu kam in Mitteleuropa die Systemkonkurrenz mit den nach dem Westen gerückten Planwirtschaften. In der Nachkriegszeit zeigte sich bereits, dass der Wiederaufbau allein keine stabile Beschäftigungslage garantieren konnte. Nur die Kombination von energischer Lohnpolitik der Gewerkschaften mit auf kollektivvertraglich und gesetzlich verankerter Arbeitszeitverkürzung sorgte für die historisch kurze Phase der Vollbeschäftigung.

Die Gewerkschaftsspitzen waren und sind Versager

In Österreich währte sie in der Zeit zwischen Metallarbeiterstreik im Jahr 1962 und Ölkrise im Jahr 1974. Von da an ging es wieder bergab: Zunächst zögerlich und dann immer massiver wurden die sozialen Errungenschaften in Frage gestellt und systematische abgebaut. Vorher waren in der Lohnfrage die Benya-Formel (Inflationsabgeltung plus Produktivitätswachstum) und in der Arbeitszeitfrage die Durchsetzung von 8 Stunden-Tag, 5 Tage-Woche und vier Wochen Mindesturlaub Meilensteine des sozialpolitischen Fortschritts.

Die Wende, die sich politisch mit der Blau-Schwarzen Regierung im Jahr 2000 erst relativ spät manifestierte, begann schon unter Kreisky und Dallinger mit der ersten einschneidenden Pensionsreform 1978 und stetig steigender Arbeitslosigkeit. Hauptverantwortlich für die negative Entwicklung war und ist die ÖGB-Spitze, weil sie sich entschloss, politisch stehen zu bleiben, statt weiter vorwärts zu schreiten. Das gilt sowohl für die Arbeitszeitfrage (Stichwort: 35 Stunden Woche) als für die Kollektivvertragspolitik. Deutlich sichtbares Ergebnis ist einerseits die Produktion prekärer Arbeitsplätze aller Art und eine wie der Schnee in der Sonne wegschmelzende Lohnquote.

Eine Konsequenz dieser Entwicklung besteht darin, dass es bis tief in die Linke massive Zweifel daran gibt, ob es überhaupt sinnvoll sei, Vollbeschäftigung anzustreben und die Werktätigen damit indirekt weiterhin der Entfremdung der kapitalistischen Produktion und dem Warenfetisch der kapitalistischen Verwertungslogik auszusetzen.

Die herrschenden Verhältnisse können nur im positivem Sinn überwunden werden, wenn es gelingt, den vergesellschafteten Produktionsprozess in neuen Rahmenbedingungen dialektisch aufzuhaben. Das setzt meiner Meinung nach die Bemühung voraus, der herrschenden Fraktionierung der „Unterdrückten und Beleidigten“ in Lohnarbeiterinnen, prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Migrantinnen usw. usf., entgegen zu wirken.

Als probater Weg zu diesem Ziel, bietet sich der geschlossene Kampf aller unselbständig Erwerbstätigen um eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei einer Entlohnung an, die eine Reproduktion der Werktätigen auf entsprechend hohem Niveau garantiert.

Ziel muss es sein, das so genannte Recht auf Arbeit zu verwirklichen,; Schon in den siebziger Jahren war kritischen Soziologen klar, dass die fortschreitende Automation und numerische Steuerung von Produktion und Verwaltung zur mittlerweile überschrittenen Jahrtausendwende die Einführung der 24 Stundenwoche erforderlich macht. Diesem Befund, der heute durch die Bedrohung der Grundlagen der menschlichen Existenz (Stichwort: Klimakatastrophe) verschärft wird, kann man nur zustimmen. Freilich wird es gewaltiger Anstrengungen der Betroffenen bedürfen, um diesen Ausweg aus der Misere auch durchzusetzen.

Quelle: Uhudla, 84. Ausgabe, August 2007, www.uhudla.at