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ÖGB-Reformbedarf: Immer weniger Indianer

  • Montag, 26. Juni 2006 @ 08:35
Meinung Von Lutz Holzinger

Die ÖGB-Spitze agiert angesichts des offenkundigen Reformbedarfs wie eine Gruppe von Häuptlingen, die sich im prächtigen Federschmuck tummelt, obwohl ihren Stämmen die Zelte abgebrannt sind. Für die Reorganisation einer wirkungsvollen Interessenvertretung ist vor allem eine gemeinsame Zielstellung - so etwas wie ein „Kampfauftrag“ - erforderlich. Der Erzberg ist zu einer Touristenattraktion geworden. Nimmt man an der Führung auf den „steirischen Brotleib“ in einem umgebauten Riesentransporter teil, erfährt man, dass heute im reinen Tagbau 110 produktiv Beschäftigte so viel Erz fördern, wie dies in der 60-er Jahren mehr als 4.000 (!!!) ArbeiterInnen bewältigt wurde. Diese Information unterstreicht, wie intensiv und umfassend die Arbeitswelt sich in der jüngeren Vergangenheit geändert hat.

Hält man sich diese gewaltige Umwälzung vor Augen, von der Eisenerz aus einer einst blühenden Stadt mit altehrwürdigen Gebäuden in eine Abraumhalde umgemodelt wird, fällt auf, wie unberührt von diesen Veränderungen der ÖGB geblieben ist. Einziger Lichtblick einer längerfristigen Bilanz war die Bereitschaft der Gewerkschaftsspitze, in den 80-er Jahren auf die in der BRD gestartete Kampagne zur Einführung der 35 Stundenwoche einzusteigen.

Seither sind aus der Hohenstaufengasse, dem Sitz der ÖGB-Zentrale, keinerlei Vorschläge gekommen, wie der zunehmende Sozialabbau in Österreich bekämpft werden könnte. Reduktion der Lohnquote, steigende Selbstbehalte im Gesundheitswesen, Pensionsabbau waren keine Themen, zu denen realistische Alternativen entwickelt oder Widerstand organisiert wurde. Bei den vom ÖGB initiierten Protesten zu Beginn der Ära Schüssel hat es sich um Strohfeuer bzw. Alibi gehandelt

Orientierung im Lohnkampf verloren

Schon in der Zeit der großen, SPÖ-geführten Koalition war aus der Arbeitszeitverkürzung keine nachhaltige Aktion geworden. Mit der Salamitaktik kleiner Schritte schaute für einzelne Berufsgruppen eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf maximal 38 Stunden heraus. Viel zu wenig für positive Auswirkungen auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der zurückgetretene ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch ist in dieser Frage von den Führern der Fachgewerkschaften im Regen stehen gelassen worden.

Welche Rolle bei der Beurteilung der Gesamtlage das Vorurteil gespielt haben mag, dass dem Kapitalismus die Zähne gezogen seien und der Sozialismus historisch versagt habe, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist der ÖGB-Führung nach dem Abgang von Anton Benya, der für die Lohnverhandlungen der Fachgewerkschaften noch die Formel Inflation plus Anteil an der Produktivitätssteigerung propagiert hatte, jede konkrete inhaltliche Orientierung abhanden gekommen.

Daher ist es kein Wunder, dass die Gewerkschaften gerade im Kernbereich der Verteilung des volkswirtschaftlichen Reichtums zwischen Unternehmen und Werktätigen in den letzten Jahrzehnten vollkommen versagt haben. Lohnabschlüsse und Pensionserhöhungen durchwegs unter der Inflationsrate und ohne Abgeltung der Produktivitätssteigerungen haben nicht nur den Betroffenen schweren Schaden zugefügt, sondern auch die Sozialversicherungen, die sich indirekt in Konkurrenz mit der privaten Versicherungswirtschaft befinden, sturmreif geschossen. Dazu kommen aus volkswirtschaftlicher Sicht negative Auswirkungen auf die Ökonomie des Landes.

Diesem Versagen ist die Prekarisierung großer Gruppen von Werktätigen durch Niedriglöhne (speziell für Frauen), erzwungene Teilzeitarbeit, Scheinselbständigkeit usw. zuzuschreiben. Für die Gewerkschaftsmitglieder bleibt indessen die Lohnfrage das Kernmotiv für ihre Bereitschaft, sich zu organisieren. Sie ist vor allem ursächlicher Sinn gewerkschaftlicher Organisation. Diesem Anspruch ist die ÖGB-Spitze in den letzten Jahrzehnten nicht gerecht geworden. Vielmehr hat sie durch eine Politik, die auf den Applaus der bürgerlichen Medien abgestellt war, den Unternehmern Schützenhilfe beim Versuch geleistet, unter der Hand von der relativen wieder auf die absolute Produktion von Mehrwert umzustellen.

Neuordnung und allenfalls Neubeginn

Statt mit dem Löwenanteil oder der Gesamtheit der Rationalisierungsgewinne zufrieden zu sein, haben die Unternehmer durch die inflationsbedingte Senkung der Löhne und/oder direkte Verlängerung der Arbeitszeit die Ausbeutungsrate zusätzlich gesteigert. Damit muss künftig Schluss sein! – Statt einer Lohnpolitik hinter verschlossenen Türen, bei der die Forderungen bzw. Beschlüsse in kleinsten Gremien bestimmt werden, sollten sie – als Akt echter Demokratisierung – in der Gewerkschaftsöffentlichkeit bzw. von der vom jeweiligen Kollektivvertrag betroffenen Gruppe diskutiert und beschlossen werden.

Eine wirkungsvolle Lohnpolitik als Voraussetzung dafür, den Mitgliederschwund zu stoppen und neue Mitglieder zu gewinnen, erfordert auch eine Anpassung der Strukturen des ÖGB. Statt ihrer stark räumlichen und hierarchisch geprägten Ausformung bietet sich der Übergang zu einem flachen Organisationsmodell an. Maßstab sollten nicht die - im Zuge der selbst verordneten Konzentration längst verschwommenen - Fachgewerkschaften sein, sondern die kollektivvertragsfähigen Einheiten gewissermaßen als Grundorganisationen, denen lediglich der ÖGB als Service- und Gesamtorganisation korrespondiert. Zwischenglieder können und sollen dort eingefügt werden, wo dies aufgrund der Zahl und/oder der territorialen Verteilung der Mitglieder erforderlich ist.

Wenn gegenwärtig über eine Neuordnung der Organisation des ÖGB diskutiert wird, sollte die Aktionsfähigkeit in der für alle Mitglieder zentralen Lohnfrage im Mittelpunkt stehen. Nach der Erschütterung der Gewerkschaftsbewegung durch die BAWAG-Affäre, in der das Gros der Mitglieder nicht nach Fraktionen differenzieren dürfte, sondern als allgemeines Desaster wahrnimmt, muss die Vertretung des Hauptinteresses der Mitglieder ins Zentrum aller Bemühungen gerückt werden.

Daher ist es notwendig, der Lohnfrage nicht nur mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sondern sie überhaupt zum Angelpunkt der Organisation zu machen. Es geht darum, die Gewerkschaftsmitglieder um die großen und kleinen Einheiten mit dem Recht Kollektivverträge abzuschließen, zu sammeln und die KV-Verhandlungen in Zukunft auf völlig neuer und zwar auf demokratischer Basis anzugehen. Statt von Spitzengremien sollten die Forderungen und die Annahme von Verhandlungsergebnisse auf breiter Basis diskutiert und beschlossen werden.

Zur längerfristigen Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Lohnarbeit und Kapital gilt es, eine enge Kooperation zwischen den Fachleute aus den Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften des ÖGB mit dem einschlägigen Apparat der Arbeiterkammern zu entwickeln und als Träger von Konzeptionen zu betrachten, die nicht an die Logik der Kapitalverwertung und Profitmaximierung angelehnt sind. Eine solche (seinerzeit als sozialistische Kaderschmiede konzipierte) Denkfabrik hätte die Aufgabe, neben der Lohnfrage als Kern aller Aktivitäten zusätzlich politische Konzepte für alle Arbeits- und Lebensbereich zu entwickeln, mit denen die ÖGB-Mitglieder zu tun haben.

Bei genauerer Analyse der bisherigen Lohnpolitik des ÖGB stellt sich heraus, dass die Spitzen der Gewerkschaftsbewegung völlig unabhängig vom BAWAG-Dilemma die Interessen der Werktätigen vergeigt haben. Die Sozialpartnerschaft ist, sieht man sich die über Jahre hinweg negative Entwicklung der Lohnquote an, zur Sozialknechtschaft mutiert. Insofern ist die Frage offen, ob der ÖGB mit seinem Image als Selbstbereicherungs- und Spekulationsverein zu retten ist. Wenn es ernsthaft darum geht, sämtliche Personen auszuschalten, die an herrschenden Zuständen im ÖGB mitverantwortlich sind, sollte man vor einer Neugründung der Gewerkschaftsbewegung in Österreich nicht zurückschrecken, auch wenn gegenwärtig die politischen Kräfteverhältnisse im Land dies nicht gerade begünstigen.