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Krise und Widerstand

  • Freitag, 1. Juli 2005 @ 13:49
Meinung Von Werner Seppmann
Studium der Philosophie und Soziologie
Mitherausgeber der "Marxistischen Blätter"
Leitung des Projekts Klassenanalyse BRD
Zahlreiche Veröffentlichungen

Nach den Zeiten politischer Friedhofsruhe hat sich in der BRD im Spätsommer 2004 breiterer Widerspruch gegenüber dem sozialpolitischen Konfrontationskurs bemerkbar gemacht. Auch wenn der Protest gegen die Hartz-„Reformen“ (noch) nicht zu einem breiten Strom des Widerstands angewachsen ist, seine ersten Wellen noch nicht stark genug waren, um zu einer sich selbst tragenden und durchsetzungsfähigen Massenbewegung zu werden, sind dennoch die Grenzen der sozialpolitischen Zumutungen und der Strategien der Ausgrenzung deutlich geworden. Von Beginn an hat diese neue soziale Bewegung kein einheitliches Bild abgeben. Ins Auge fällt zunächst der unterschiedliche Umfang der Bewegung in Ost- und Westdeutschland. Das hat bei vordergründiger Betrachtung sicherlich mit der besonderen Intensität der Krise in den östlichen Bundesländern zu tun. Dort existieren Gebiete der Hoffnungslosigkeit, in denen oftmals mehr als 30 Prozent der Menschen arbeitslos sind. Aus ihnen sind die Jungen und Qualifizierten weggezogen, weil auch bei bestem Willen, sich niemand mehr vorzustellen vermag, wie es in einem positiven Sinne weiter gehen soll.

Die Kollektivität der sozialen Lage ist im Osten der BRD durch die Konzentration der Probleme den Menschen unmittelbar erfahrbar. Aber das ist nicht der einzige Grund für die intensive Widerspruchsbereitschaft. Nach einer Phase der Verunsicherung und sicherlich auch des Wegduckens, werden jetzt Mentalitätsformen wirksam, die zu dem positiven Erbe einer sozialistischen Vergangenheit gehören: Denn wenn die Menschen etwas nicht vergessen haben, dann ist es die existenzielle Sicherheit in ihren ehemaligen Lebensverhältnissen, die Verwirklichung eines Rechts auf Arbeit und eine faktisch existierende soziale Grundsicherung. Mit diesen Maßstäben wird nun auch die neue, realkapitalistische Lebenswirklichkeit gemessen, die nur wenig mit den vollmundigen Versprechungen einer Wohlstandsteilhabe für alle zu tun hat. Konfrontationsbereitschaft ist an die Stelle von Konsensorientierung getreten.

Ausgrenzung und Verarmung

Dass im Gegensatz zur Breite und Intensität die Proteste im Osten, die Demonstrationen im Westen verhaltener ausfielen, kann nicht damit zu tun haben, dass die Probleme weniger drängend wären. Denn die Veränderungen der letzten Jahre waren für viele in den westlichen Landesteilen ebenso gravierend, wie für die Menschen im Osten. Unsicherheit, die Gefahr des Statusverlustes und des sozialen Absturzes sind auch für sie zur prägenden Sozialerfahrung geworden. Denn Leben, das dem Profitsystem nicht nützlich ist, wird systematisch abgewertet und das Anwachsen der Gruppen von „Überflüssigen“ und „Randständigen“ billigend in Kauf genommen. Jeder dritte Haushalt rutscht innerhalb einer achtjährigen Phase zeitweilig unter die Armutsgrenze – ohne dass dies vom herrschenden Block noch als ein problematischer Zustand angesehen wird: Eine Bereitschaft zur „sozialstaatlichen“ Abfederung der Lohnarbeitsrisiken scheint nicht mehr zu existieren.

Im skandalösen Umfang nehmen Ausgrenzung und Verarmung nicht nur in den gesellschaftlichen „Randregionen“ zu. Auch in den ehemaligen Zonen der Stabilität und eines bescheidenen „Wohlstands“ kann niemand seiner Zukunftsaussichten mehr sicher sein. Schon Mitte der 90er Jahre antworteten zwei Drittel der abhängig Beschäftigten im Westen der Bundesrepublik mit einem „ja“ auf die Frage ob sie das Risiko sehen, in den nächsten zwei Jahren ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Im Prinzip haben sie Recht behalten, denn mittlerweile wird (im statistischen Durchschnitt) jeder abhängig Beschäftigte in einem Vier-Jahres-Rhythmus arbeitslos.

Und dennoch ist es erstaunlich lange still geblieben, haben sich die Menschen die eskalierenden Zumutungen über Gebühr gefallen lassen. Trotz eines ersten Aufbäumens, blieb der Protest hinter der Dramatik der sozialen Widerspruchsentwicklung zurück. Zwar haben die Betroffenen keine Illusionen über den Gesellschaftszustand und ihre bedrohten Zukunftsaussichten, denn dafür ist die Krise ja schon zu lange offensichtlich. Aber obwohl immer mehr Menschen aus dem System „regulärer“ Beschäftigung herausfallen und die Blöcke der Perspektivlosen und Bedürftigen immer größer werden, halten sich die delegitimierenden Konsequenzen für den „marktradikalen“ Kapitalismus in Grenzen, bleibt die Mehrheit von einer lähmenden Schicksalsergebenheit geprägt.

Möglichkeiten der Überwindung

Diese angepassten Reaktionsmuster zu untersuchen und Möglichkeiten ihrer Überwindung auszuloten ist ein wichtiges Aufgabenfeld eines klassentheoretischen Forschungsprojekts im Rahmen der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal. Zentrale Fragen, denen nachgegangen wird, lauten:

Wie verarbeiten die Menschen ihre Lebensumstände und wie reagieren sie auf die Krisenerfahrungen?

Durch welche sozialen Vermittlungen gelingt es dem herrschenden Block, für seine Ideologie und Politik die Zustimmung der Mehrheit zu gewinnen?

Wie ist es zu erklären, dass die übergroße Mehrheit der Menschen sich mit den zunehmen Zumutungen, mit sozialer Bedrohung und existentieller Verunsicherung abfinden?

Diese Problemauflistung ist von der Einsicht geprägt, dass die klassengesellschaftlichen Strukturen und die politische Bewusstseinsbildung nicht synchron verlaufen. Nötig ist deshalb eine über die Strukturanalyse hinaus gehende Beschäftigung mit den alltagspraktischen Formen der Widerspruchsverarbeitung.

Die subjektiven Verarbeitungsmuster haben natürlich auch wiederum objektive Ursachen. Und deren wichtigste ist die latente ökonomische Krise und der Anstieg der Arbeitslosigkeit. Vor allen durch die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust werden die Kolleginnen und Kollegen eingeschüchtert und gefügig gemacht: Die Erpressung mit Stellenstreichungen und Arbeitsplatzverlagerungen gehört mittlerweile zu den ganz „gewöhnlichen“ Methoden des Kapitals, um die Beschäftigten unter Druck zu setzen, die Leistungsstandards zu erhöhen und tarifpolitische „Bescheidenheit“ zu erreichen.

"Prekär" wird "Normal"

Das Besondere der gegenwärtigen sozial-destruktiven Prozesse (die in recht ähnlicher Weise in allen Hauptländern des Kapitals zu beobachten sind) liegt jedoch nicht nur in der zunehmenden Polarisierung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Es existieren auch Spaltungstendenzen, die mitten durch die Schichten der Arbeitskraftverkäufer und -verkäuferinnen selbst verlaufen. Da gibt es diejenigen die Arbeit haben und es gibt die Arbeitslosen; aber es gibt auch noch die Spaltung innerhalb der Arbeitswelt, ja innerhalb des einzelnen Betriebes: Für die gleiche Arbeit wird immer seltener der gleiche Lohn gezahlt. Auch weisen die Arbeitzeiten und Sozialleistungen gravierende Spannbreiten auf. In schnellem Tempo wachsen die prekären Beschäftigungsbereiche, in denen deutlich reduzierte Einkommen gezahlt werden und in denen die soziale Absicherung der Beschäftigten nur noch lückenhaft ist: Das „Normalarbeitsverhältnis“ wird durch befristete Verträge, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf und der Scheinselbstständigkeit zurück gedrängt. Schnell wächst dadurch die Gruppe der „arbeitenden Armen“, also jener Menschen, die auch bei Vollzeitjobs ihren Lebensunterhalt kaum noch bestreiten können: Gegenwärtig betragen die Stundenlöhne für mehr als 6 Millionen Lohnabhängige in der Bundesrepublik weniger als 6 Euro. In dieser Gruppe sind viele Teilzeitbeschäftigte (die, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, mehrere Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen) anzutreffen, aber auch bei den Vollzeitbeschäftigten arbeiten ca. 2,7 Millionen Männer und Frauen in Niedriglohnbereichen. Ihr monatliches Einkommen liegt ein Drittel unterhalb des Niveaus des Durchschnittseinkommens, d.h. sie erzielen einen Bruttoverdienst von (teilweise deutlich) weniger als 1508 Euro.

Arbeiterklasse in Geiselhaft

Zu spalten, um zu herrschen, ist zu einem vorrangigen Mittel der sozialen Strategie des Kapitals geworden. Denn die gravierende Ungleichheit, die Zunahme von Armut und Bedürftigkeit sind alles andere als Betriebsunfälle der so genannten „Arbeitsmarktreformen“, sondern Eckpfeiler einer Veränderung der Ausbeutungsstrategie des Kapitals: Langfristig soll die Arbeiterklasse psychisch und ideologisch in Geiselhaft genommen werden. Sie soll verunsichert werden, um aus den arbeitenden Männern und Frauen die letzten Leistungsreserven herauspressen zu können. Aber dazu muss es gravierende Ungleichheit, auch spürbare Formen der Bedürftigkeit und Armut geben: Sie sind Garanten für ein Klima der Angst, das vom Kapital als leistungsfördernd angesehen wird.

Auch die ideologische Vormachtstellung kann auf diesem Wege gesichert bleiben: Denn durch die Inszenierung einer existenzieller Bedrohung wird die Bereitschaft der Menschen gesteigert, den Täuschungsmanövern des Kapitals auf dem Leim zu gehen, zu glauben, dass Lohnzurückhaltung und die „Deregulierung“ des Sozialstaates in Kombination mit steigenden Unternehmergewinnen Arbeitsplätze sichern würden. Durch die Inszenierung von Unsicherheit wird versucht, systematisch das Lohnniveau und die sozialen Standards abzusenken. Es geht um eine soziale Rückstufung, wie sie die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Zentren bisher kaum erlebt hat.

Die Verschärfung des Klassenkampfes von Oben, ist Ausdruck einer fundamentalen Veränderung der Kapitalverwertungsbedingungen. Aufgrund struktureller Effekte der Kapitalakkumulation sind die Verteilungsspielräume aus Sicht des Kapitals enger geworden, denn die Reproduktion der Ausbeutungs- und Aneignungsstruktur erfordert die Vergrößerung des Anteils des konstanten Kapitals am Gesamtinvestitionsvolumen. Konkret: Es muss immer mehr investiert werden, wenn die Profite fließen sollen. Das bedeutet jedoch nicht das Ende der Gestaltungsfähigkeit des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital. Jedoch können spürbare Verbesserungen der Lage der arbeitenden Klasse nur noch durch konfliktbereite Strategien erreicht werden.

Wie einen solidarischen Horizont entwickeln?

Die sozialen Spaltungstendenzen erschweren jedoch die für eine erfolgreiche Interessenvertretung unverzichtbaren Mobilisierungsprozesse. Durch die Uneinheitlichkeit der sozialen Lagen, arbeitsrechtliche Differenzierungen, insgesamt einer Atmosphäre der „Unübersichtlichkeit“, ist es für die Betroffen schwieriger geworden, die - natürlich nach wie vor bestehenden - strukturellen Gemeinsamkeiten ihrer sozialen Existenz zu erfassen und ein Bewusstsein gemeinsamer Interessen zu entwickeln. Es stellt sich die dringliche Frage, wie trotz der realen Spaltung ein solidarischer Horizont entstehen, eine Vorstellung gemeinsamer Interessen sich entwickeln kann? Denn es existiert nur dann die Chance eines erfolgreichen Widerstandes, wenn das Verbindende zwischen den Klassensegmenten, zwischen „privilegiert“ und prekär Beschäftigten, zwischen Arbeitslosen und fest Angestellten wieder erkannt wird.

Gegenüber einem sich radikalisierenden Kapitalismus wird es von elementarer Bedeutung sein, dass sich betriebliche und außerbetriebliche Protest- und Aktionsformen miteinander verbinden. Denn während Unmutsäußerungen auf der Straße ohne Verankerung in den Betrieben sehr häufig substanzlos bleiben, können auch die betrieblichen Konflikte kaum noch erfolgreich ausgefochten werden, wenn an den traditionellen Organisationsmustern festgehalten wird. Viele Kampfformen aus den Zeiten der Hochkonjunktur sind in der Krise nur noch wenig erfolgsversprechend. Denn aufgrund der existierenden industriellen Strukturen und des globalen Charakter des Ausbeutungsprozesses ist es dem Kapital sehr leicht möglich die Belegschaften gegeneinander auszuspielen. Das ist sicherlich einer der Gründe, weshalb die Arbeitskämpfe in der letzten Zeit weitgehend Abwehrkämpfe gewesen – und auch geblieben sind. Deshalb wird in den zukünftigen Auseinandersetzungen die Selbstbeschränkung auf „symbolische“ Manifestationen nicht ausreichen: Unumgänglich ist eine gesteigerte Konflikt- und Durchsetzungsbereitschaft, deren erfolgsversprechendes Profil jedoch noch entwickelt werden muss.

Quelle: „die arbeit“, 3/2005