1.700 Euro Mindestlohn! - Aber wann?
- Mittwoch, 16. November 2016 @ 21:10
Josef Stingl, Bundesvorsitzender des GLB und Mitglied des ÖGB-Bundesvorstandes
Zwei Studien machen diese Woche die Runde. Erstere ist die Studie der in Innsbruck ansässigen Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung (GAW). Sie beschäftigt sich mit der Kaufkraftentwicklung. Zweitere Studie, der seit 2008 von der Bertelsmann-Stiftung erhobene „Social Justice Index“, er beschäftigt sich mit dem Anstieg von „Working poor“ trotz Vollzeitbeschäftigung. Real sinkende Kaufkraft trotz KV-Erhöhungen
Die GAW hat für ihre Studie den jüngsten Metaller-KV-Lohnabschluss von 1,68 Prozent als Gradmesser herangezogen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Arbeitnehmer_innen verlieren trotz der etwas über der Inflationsrate ausgefallenen KV-Erhöhung an Kaufkraft: Inflation und Steuersystem fressen die Lohnerhöhung real wieder auf. Nutznießer ist der Finanzminister, er kassiert aufgrund der „kalten Progression“* überproportional mehr an Steuereinnahmen. Steigt beispielsweise ein monatliches 2.500-Euro-Bruttoeinkommen um 1,68 Prozent, heißt das für das Nettoeinkommen nur eine 1,3- bis 1,4-prozentige Erhöhung. Die Einnahmen aus der Lohnsteuer steigen dagegen um 3,9 Prozent.
Noch fataler ist die Auswirkung der kalten Progression bei den niedrigeren Einkommensbereichen. Steigt etwa der Monatsbruttolohn von 1.285 Euro um 2 Prozent, bleiben netto nur mehr 1,6 Prozent über. Die Steuereinnahmen für den Staat steigen dagegen um 12 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass viele durch die Lohnerhöhung in die erste Steuerstufe fallen und damit erst lohnsteuerpflichtig werden.
Bittere Pille: Für 2017 wird eine Inflation von 1,7 Prozent erwartet. Wenn die meisten Nettoeinkommen der Metaller_innen allerdings nur um 1,3 bis 1,4 Prozent steigen, wird nicht einmal die Inflation ausgeglichen. Da andere, gegenüber den Metaller_innen ohnehin schon Niedriglöhner_innen, nicht einmal die 1,68 Prozent KV-Lohnerhöhung erhalten, trifft diese negative Entwicklung der Kaufkraft noch viel deutlicher zu. Nur ein Beispiel: die Handelsangestellten, sie erhalten ein „Plus“ von 1,33 Prozent und haben damit real netto noch weniger in der Börse.
Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage gestellt
Zweitere Studie, der „Social Justice Index“ zeigt die Auswirkungen dieser seit Jahren „maßvollen Lohnpolitik“. Der Anteil der von Armut bedrohten Vollzeitbeschäftigten stieg von 2013 (7,2 Prozent) bis 2015 (7,8 Prozent) an. 2015 ist mit 118 Millionen jedeR vierte EU-Bürger_in von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Der Vorsitzende der Stiftung Aart De Geus meint dazu, dass dies die Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage stellt.
Die Gründe sehen die Autor_innen der Studie im wachsenden Niedriglohnsektor und einer Spaltung der Arbeitsmärkte in reguläre und atypische Formen von Beschäftigung. Bei der Bewertung der sozialen Gerechtigkeit in den 28 EU-Ländern liegt Schweden an der Spitze und Griechenland am Ende der Liste. Beleuchtet wurden dabei die Bereiche Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Generationengerechtigkeit. Das reiche Österreich befindet sich mit dem siebten Platz gerade noch im ersten Viertel der Liste.
Die wachsende Armut der Erwachsenen wirkt sich auf die Kinder und Jugendlichen aus. 27 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der EU leiden unter der Armutskrise Europas. In Griechenland, Italien, Spanien, Portugal ist es im Schnitt sogar jedes dritte Kind (33,8 Prozent), das von Armut bedroht ist.
Das vergessene WANN
Zahlreiche Gewerkschafter_innen verlangen als Gegenmaßnahme – richtigerweise – einen Mindestlohn von 1.700 Euro, zuletzt in Tirol der ÖGB-Vorsitzende Otto Leist. Auf die Antwort, um das entscheidende WANN, wird allerdings „wissentlich vergessen“. Das Beispiel des Handelsangestellten-KV-Verhandlungsergebnisses, wo auch der Tiroler Gewerkschaftschef im entscheidenden kleinen Verhandlungsteam sitzt, zeigt auch warum. Am 1. Jänner 2017 erhöht sich der bisherige Mindestgehalt von 1.524 Euro um 23 Euro (!?!) auf 1.547 Euro.
Auch wenn GPA-djp-Chefverhandler Franz Georg Brantner meint, damit dem „Ziel eines Mindestgehalts von 1.700 Euro einen Schritt näher gekommen zu sein“, bleibt die Tatsache aufrecht, dass zu den 1.700 Euro noch immer 153 Euro fehlen. In diesen „23-Euro-Riesenschritten“ sind die 1.700 Euro erst in sieben Jahren, also 2024 Realität – nur was sind sie dann wert?
Bleibt die Position des Gewerkschaftlichen Linksblocks im ÖGB (GLB). Der bzw. wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von stündlich 13 Euro bei einer 30 Stunden-Woche, also ebenfalls die 1.700 Euro. Nur jetzt und nicht irgendwann, wertgesichert und lohnsteuerfrei! Im Übrigen kein Gegenkonzept zur österreichischen „Erfolgsgeschichte Kollektivverträge“, sondern ein zusätzlichess sozialstaatliches Sicherheitsnetz gegen Prekarisierung, Armut und den steigenden Lohnsteuerklau aufgrund der kalten Progression: Zumindest beim Mindestlohn!
* Kalte Progression ist die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Steuerstufen der progressiven Lohnsteuer nicht an die Preissteigerungsrate angepasst werden.
Zwei Studien machen diese Woche die Runde. Erstere ist die Studie der in Innsbruck ansässigen Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung (GAW). Sie beschäftigt sich mit der Kaufkraftentwicklung. Zweitere Studie, der seit 2008 von der Bertelsmann-Stiftung erhobene „Social Justice Index“, er beschäftigt sich mit dem Anstieg von „Working poor“ trotz Vollzeitbeschäftigung. Real sinkende Kaufkraft trotz KV-Erhöhungen
Die GAW hat für ihre Studie den jüngsten Metaller-KV-Lohnabschluss von 1,68 Prozent als Gradmesser herangezogen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Arbeitnehmer_innen verlieren trotz der etwas über der Inflationsrate ausgefallenen KV-Erhöhung an Kaufkraft: Inflation und Steuersystem fressen die Lohnerhöhung real wieder auf. Nutznießer ist der Finanzminister, er kassiert aufgrund der „kalten Progression“* überproportional mehr an Steuereinnahmen. Steigt beispielsweise ein monatliches 2.500-Euro-Bruttoeinkommen um 1,68 Prozent, heißt das für das Nettoeinkommen nur eine 1,3- bis 1,4-prozentige Erhöhung. Die Einnahmen aus der Lohnsteuer steigen dagegen um 3,9 Prozent.
Noch fataler ist die Auswirkung der kalten Progression bei den niedrigeren Einkommensbereichen. Steigt etwa der Monatsbruttolohn von 1.285 Euro um 2 Prozent, bleiben netto nur mehr 1,6 Prozent über. Die Steuereinnahmen für den Staat steigen dagegen um 12 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass viele durch die Lohnerhöhung in die erste Steuerstufe fallen und damit erst lohnsteuerpflichtig werden.
Bittere Pille: Für 2017 wird eine Inflation von 1,7 Prozent erwartet. Wenn die meisten Nettoeinkommen der Metaller_innen allerdings nur um 1,3 bis 1,4 Prozent steigen, wird nicht einmal die Inflation ausgeglichen. Da andere, gegenüber den Metaller_innen ohnehin schon Niedriglöhner_innen, nicht einmal die 1,68 Prozent KV-Lohnerhöhung erhalten, trifft diese negative Entwicklung der Kaufkraft noch viel deutlicher zu. Nur ein Beispiel: die Handelsangestellten, sie erhalten ein „Plus“ von 1,33 Prozent und haben damit real netto noch weniger in der Börse.
Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage gestellt
Zweitere Studie, der „Social Justice Index“ zeigt die Auswirkungen dieser seit Jahren „maßvollen Lohnpolitik“. Der Anteil der von Armut bedrohten Vollzeitbeschäftigten stieg von 2013 (7,2 Prozent) bis 2015 (7,8 Prozent) an. 2015 ist mit 118 Millionen jedeR vierte EU-Bürger_in von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Der Vorsitzende der Stiftung Aart De Geus meint dazu, dass dies die Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage stellt.
Die Gründe sehen die Autor_innen der Studie im wachsenden Niedriglohnsektor und einer Spaltung der Arbeitsmärkte in reguläre und atypische Formen von Beschäftigung. Bei der Bewertung der sozialen Gerechtigkeit in den 28 EU-Ländern liegt Schweden an der Spitze und Griechenland am Ende der Liste. Beleuchtet wurden dabei die Bereiche Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Generationengerechtigkeit. Das reiche Österreich befindet sich mit dem siebten Platz gerade noch im ersten Viertel der Liste.
Die wachsende Armut der Erwachsenen wirkt sich auf die Kinder und Jugendlichen aus. 27 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in der EU leiden unter der Armutskrise Europas. In Griechenland, Italien, Spanien, Portugal ist es im Schnitt sogar jedes dritte Kind (33,8 Prozent), das von Armut bedroht ist.
Das vergessene WANN
Zahlreiche Gewerkschafter_innen verlangen als Gegenmaßnahme – richtigerweise – einen Mindestlohn von 1.700 Euro, zuletzt in Tirol der ÖGB-Vorsitzende Otto Leist. Auf die Antwort, um das entscheidende WANN, wird allerdings „wissentlich vergessen“. Das Beispiel des Handelsangestellten-KV-Verhandlungsergebnisses, wo auch der Tiroler Gewerkschaftschef im entscheidenden kleinen Verhandlungsteam sitzt, zeigt auch warum. Am 1. Jänner 2017 erhöht sich der bisherige Mindestgehalt von 1.524 Euro um 23 Euro (!?!) auf 1.547 Euro.
Auch wenn GPA-djp-Chefverhandler Franz Georg Brantner meint, damit dem „Ziel eines Mindestgehalts von 1.700 Euro einen Schritt näher gekommen zu sein“, bleibt die Tatsache aufrecht, dass zu den 1.700 Euro noch immer 153 Euro fehlen. In diesen „23-Euro-Riesenschritten“ sind die 1.700 Euro erst in sieben Jahren, also 2024 Realität – nur was sind sie dann wert?
Bleibt die Position des Gewerkschaftlichen Linksblocks im ÖGB (GLB). Der bzw. wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von stündlich 13 Euro bei einer 30 Stunden-Woche, also ebenfalls die 1.700 Euro. Nur jetzt und nicht irgendwann, wertgesichert und lohnsteuerfrei! Im Übrigen kein Gegenkonzept zur österreichischen „Erfolgsgeschichte Kollektivverträge“, sondern ein zusätzlichess sozialstaatliches Sicherheitsnetz gegen Prekarisierung, Armut und den steigenden Lohnsteuerklau aufgrund der kalten Progression: Zumindest beim Mindestlohn!
* Kalte Progression ist die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Steuerstufen der progressiven Lohnsteuer nicht an die Preissteigerungsrate angepasst werden.