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Wem nützt Industrie 4.0?

  • Mittwoch, 13. April 2016 @ 16:49
Meinung Peter Fleissner über die nächste industrielle Revolution

In letzter Zeit hat ein neues Schlagwort Konjunktur: Nicht nur die Industriellenvereinigung, auch der ÖGB-Präsident spricht von „Industrie 4.0“. Begonnen hat die Karriere dieses Begriffs 2011 als Name eines neuen Projekts der deutschen Industrie, das die fernöstliche Konkurrenz aus dem Felde schlagen will, obwohl Deutschland als EU-Exportmeister fungiert. Österreichs Industrie hat sich angesichts stagnierender Umsatzzahlen von diesem Mantra anstecken lassen. Es wird eine weitere industrielle Revolution erwartet, diesmal die vierte.

Smart Factory

Ihr Inbegriff ist die Smart Factory, in der eine neue Produktionslogik herrscht: Jedes einzelne Produkt und jeder wichtige Bauteil sind eindeutig identifizierbar und jederzeit lokalisierbar. Sie kennen selbst ihre Vorgeschichte, den aktuellen Zustand sowie alternative Wege zur weiteren Verarbeitung oder zum Zielort.

Laut den Umsetzungsempfehlungen der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 sind „die eingebetteten Produktionssysteme ... vertikal mit betriebswirtschaftlichen Prozessen innerhalb von Fabriken und Unternehmen vernetzt und horizontal zu verteilen, in Echtzeit steuerbaren Wertschöpfungsnetzwerken verknüpft, von der Bestellung bis zur Ausgangslogistik. Gleichzeitig ermöglichen und erfordern sie ein durchgängiges Engineering über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg“ und über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts einschließlich seines Produktionssystems.

Bestandteile der Smart Factory sind neben den schon vorhandenen flexiblen Fertigungssystemen immer mehr Roboter und automatische Lager- und Transportsysteme in der Fabrik. Von zentraler Bedeutung ist dabei die nahtlose Kommunikation aller Geräte und Produkte über digitale Kanäle, die sich über die ganze Welt erstrecken können.

Logistik 4.0

Will man die Kosten senken und die Erträge nachhaltig steigern, muss Industrie 4.0 mit einer leistungsfähigen Informations- und Kommunikationsinfrastruktur ausgestattet werden, die eine Veränderung der gesamten Logistik und des physischen Transportsystems mit sich bringen wird. Modell dafür ist das Internet, bei dem die übertragenen Daten in kleine Pakete zerlegt werden. Diese Pakete wählen selbstständig den kürzesten oder billigsten Weg, um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Dort angelangt werden die Datenpakete zur ursprünglichen Information zusammengesetzt.

Logistik 4.0 geht einen ähnlichen Weg, nur handelt es sich nicht mehr um Daten, sondern Waren aller Art. Sie werden platzsparend in modularen Boxen verschiedener Größe verpackt und suchen sich mit eigener künstlicher Intelligenz ausgestattet den wirtschaftlichsten, umweltschonendsten oder schnellsten Weg per Flugzeug, LKW, Bahn, Schiff oder Drohne. Und dies ist keine Utopie mehr: Im Rahmen eines EU-Projekts an der TU Graz wurde z. B. schon eine modulare Box entworfen, die bereits von der italienischen Post und dem Multi Procter & Gamble getestet wurde.

Das Internet und die Miniaturisierung elektronischer Komponenten macht’s möglich, jeden installierten Bauteil mit einer Kennzeichnung zu versehen, dessen Zustand durch Selbstdiagnose festzustellen und bei Ablauf der Lebensdauer oder bei Schäden mit dem Hersteller selbsttätig in Kontakt zu treten.

Rechte des Betriebsrats

Der Betriebsrat muss gefragt werden, wenn Industrie 4.0 eingeführt wird, er kann den Technologieeinsatz gerichtlich verbieten lassen, wenn zusätzliche Mitarbeiterdaten erhoben, elektronisch übertragen, verarbeitet und zur Leistungsbeurteilung verwendet werden. Auch die Einführung von Gleitzeitmodellen ist zustimmungspflichtig.

Durch Industrie 4.0 wird sich ein neuer Typus von Arbeit durchsetzen, der sich deutlich vom früheren Normalarbeitsmodell (mit lebenslanger Bindung an einen Job, verlässlichen Aufstiegsmöglichkeiten, wachsenden Reallöhnen und sozialer Absicherung) unterscheidet. Prekarität wird von der Ausnahme zum neuen Standard. Die bisher längerfristigen Arbeitsperioden an einem bestimmten Arbeitsplatz verkürzen sich, während die potentielle Verfügbarkeit, einen Kurzjob anzunehmen, auf 24 Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche ausgedehnt wird.

Jobbeschreibungen werden standardisiert und mit messbaren Qualitätsanforderungen versehen, die auch überprüft werden. Die abbröckelnde Solidarität zwischen den arbeitenden Menschen gibt sexistischen und rassistischen Anforderungsprofilen größeren Raum. Neue Kurzzeitverträge entkoppeln Arbeitsproduktivität und Einkommen. Jeder neue Job hat seine eigenen Anforderungen und finanziellen Entschädigungen. Um ein hinreichendes Einkommen zu erhalten, müssen oft mehrere Jobs pro Tag angenommen werden.

Fazit

Offensichtlich können selbst die wunderbarsten technischen Neuerungen unter der Hand zu Unterdrückungsinstrumenten werden. Umso nötiger ist es, dass Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften aus ihrer Erstarrung aufwachen und neue Wege finden, die Arbeitsbedingungen zugunsten der ArbeiterInnen und Angestellten umzugestalten. Es geht um Lohnhöhe, Arbeitszeiten, Arbeitsqualität, aber auch um eine menschenwürdige soziale Absicherung. Eine der besten sozialen Innovationen wäre jedoch die rasche Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens.

Peter Fleissner ist Ökonom und lebt in Wien