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Mit vollem Risiko

  • Samstag, 19. April 2014 @ 22:11
Meinung Anne Rieger über Ein-Personen-Unternehmen

Jede zweite Firma in Österreich ist ein Ein-Personen-Unternehmen (EPU). Fast 330.000 Menschen arbeiten in diesen ungeschützten Verhältnissen, 15.000 kommen jährlich neu dazu. Dreiviertel der EPUs sind mit Dienstleistungen tätig. Die Palette reicht von gut 40.000 selbstständigen Personenbetreuerinnen in der 24-Stunden-Pflege über mehr als 10.000 „VertreterInnen“ im Direktvertrieb bis zu Unternehmensberatung, IT-Experten und Finanzdienstleistung, berichtet der „Kurier“. Selbständige Krankenpflege, Jugendbetreuung, Totengräber, Journalismus, Psychotherapie, Piloten und Animateure ergänzt das „Forum zur Förderung von Selbständigkeit“ die Aufzählung.

Nicht Selbstverwirklichung

Entgegen der landläufig verbreiteten Meinung handelt sich bei den EPUs nicht hauptsächlich um junge Menschen in Kreativberufen, die sich selbstverwirklichen, gerne ihr eigener Herr und unabhängig sein wollen und die Selbständigkeit lieben. Jede/r dritte EinzelkämpferIn ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, jede/r vierte schon über 50 Jahre, so die Statistik Austria.

Während die EPU-Beauftragte der Wirtschaftskammer schwärmt, durch den technologischen Fortschritt gäbe es auch mehr Möglichkeiten, als EPU tätig zu sein, weist die Arbeiterkammer darauf hin, dass es für viele über 50-Jährige häufig die einzige Möglichkeit sei im Erwerbsleben zu bleiben.

Rezept für Pleiteopfer

Auch ehemaligen Schlecker, später dayli-Beschäftigten wurde die „Selbständigkeit“ als Alternative zur Arbeitslosigkeit angeboten. Ein Drittel der Frauen in Österreich, die dort gearbeitet hatten, war älter als 50 Jahre. Jetzt wird von mehreren Zeitungen, darunter „Die Presse“ berichtet „Einige ehemalige dayli-Verkäuferinnen suchen ihr Glück in der Selbstständigkeit. Sie übernehmen die Filialen, in denen sie früher als Angestellte gearbeitet haben.“

Gerade mal eine Frau hat eine Drogerie von dayli übernommen, sieben weitere hätten bei ihr um Rat gefragt, weil sie auch planten, das Drogeriegeschäft in ihrem Ort weiterzuführen. Angesichts der 3.500 Frauen, die allein in Österreich ihren Arbeitsplatz bei dayli verloren und von denen ein Drittel, ca. 1.300 noch arbeitslos oder in Schulungen sind, ist es kein zukunftsweisender Weg.

Vom AMS gedrängt

Aber immer mehr Arbeitslose drängen oder werden in die Selbstständigkeit gedrängt. 5.000 von ihnen durchlaufen pro Jahr ein eigens ins Leben gerufenes Gründerprogramm des AMS. Die wachsende Zahl ist Ergebnis des Wandels in der Beschäftigungsstruktur der

Wirtschaft. Strukturelle Umwälzung des Arbeitsmarktes im Zuge der von der Wirtschaftsseite vehement betriebenen sog. Liberalisierung. Unternehmen streichen die Anzahl der nach Kollektivverträgen angestellten Beschäftigten. Da diese auf dem Markt der Arbeitenden bei einer Rekordarbeitslosigkeit von 450.000 keine Chance auf eine Anstellung haben, wählen sie den Weg in die (Schein)Selbständigkeit.

Moderne Sklaverei

„Format“ berichtet, wie die „neuen Selbständigen“ ums Überleben kämpfen: „Als moderne Sklaven sehen sich manche EPUs“. „Gefesselt von Abgaben, schlecht entlohnt, in unsicheren Prekariats- und sonstigen ungünstigen Auftragsverhältnissen steckend, ausgebeutet, unabsehbaren Risiken ausgesetzt, von Kammer und Sozialversicherung bis zum letzten Cent in ihrem Geldbörsel verfolgt“, beschreibt „Format“ die Situation der individualisierten, meist schutzlos der „entfesselten“ Wirtschaft der Großkonzerne ausgelieferten arbeitenden Menschen. Ihr durchschnittlicher Unternehmerlohn mit 23.200 Euro brutto im Jahr ist nicht berauschend und niedriger als das durchschnittliche Einkommensniveau im Angestelltenbereich (32.000 Euro).

Anne Rieger ist Stellv. Vorsitzende des GLB-Steiermark