Willkommen bei GLB - Gewerkschaftlicher Linksblock (Alte Website - Archiv seit Mai 2023) 

„Wir werden sichtbar“

  • Montag, 15. Februar 2016 @ 08:00
Service Ein Buchtipp von Anne Rieger

Flüchtlingen, die 2012 nach einem Fußmarsch aus Bayern nach Berlin kamen protestieren zuerst am Alex, dann im Protestcamp am Oranienplatz, später auf dem Dach einer Schule. „We become visible“. Sie verlangen das Ende der Residenzpflicht, des Abschiebestopps, die Abschaffung von Gemeinschaftsunterkünften. Vor allem fordern sie Arbeit. Der Protagonist Richard, ein gerade emeritierter Professor, der nichts mehr zu tun hat, außer seinem „Krempel“ aus dem Institut zu Hause einen Platz zu geben, die Odyssee zu lesen oder bei Ovid nachzuschlagen, hat einfach nur Zeit, „die ihn quält“. Ohne Kinder, die Frau verstorben, die Geliebte gegangen, wird dieser mit überflüssiger Zeit zu leben Lernende den geflohenen Menschen aus Afrika gegenübergestellt. Sie haben ebenfalls Zeit.

Der Professor beginnt ein Projekt, lernt aus Büchern über die Länder und Lage der Flüchtlinge. Er entwirft Fragen und geht damit zu den Geflohenen, um sie zu interviewen. Mit der Zeit lernt er ihre Erlebnisse, ihre Persönlichkeiten, die Ursachen ihrer Flucht kennen, verliert die akademische Distanz und hilft. Er begleitet sie zu Behörden, erklärt unverständlicher Papiere, gibt Deutsch- und Klavierunterricht oder hört einfach nur zu. Er lernt Begriffe wie Dublin II, Duldung, Rückführung, Abschiebehaft, Asylrechtsverordnung, Aufenthaltstitel, Ausreisefristverlängerung, Engpassberufe.

Erpenbeck gibt mit dem sehr gut recherchierten Roman Angekommenen aus Ghana, Sierra Leone oder Niger ein Gesicht. Sie erzählen ihre Geschichten. Die Kritik am inhumanen – bürokratisch versteckten – Umgang mit flüchtenden Menschen ist unüberlesbar. Der Wunsch vieler Menschen den Geflohenen zu helfen wird besonders gut herausgearbeitet, als die Gruppe der flüchtenden Menschen zum dritten Mal zerteilt werden soll und für 147 von 469 ein Schlafplatz in Berlin außerbehördlich organisiert wird: „Wo die übrigen 329 geblieben sind, bringt Richard nicht in Erfahrung“. Denn sie müssen nach den Regeln des deutschen Rechts nach Italien zurück, wollen aber nicht. Deutlich zeigt sich die Grenze der individuellen Hilfsmöglichkeiten, wenn die Regierung nicht gezwungen wird, die Gesetze zu ändern.

Anne Rieger ist Vorstandsmitglied des GLB-Steiermark

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus-Verlag, München 2015. 352 S., 19,99 Euro