Kampfthema Arbeitszeit

Montag, 19. März 2007 @ 14:26

Von Lutz Holzinger

Wenn die Spitze des ÖGB die Frage erörterte, weshalb sie im Abseits gelandet ist und sich nur noch Dank der GutmĂŒtigkeit der Mitglieder ĂŒber eine Existenzgrundlage verfĂŒgt, wĂŒrde sie frĂŒher oder spĂ€ter auf die Zeitproblematik stoßen. Sie ist das Um und Auf dessen, was altmodisch Klassenkampf genannt wird. Die Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital ist keine Erfindung von Revolutionsromantikern, sondern ein Gesetz des Verwertungsprozesses im Kapitalismus. Die Unternehmen sind nur in dem Maß an lebendigen ArbeitskrĂ€ften interessiert, als sie erforderlich sind, um den Produktionsprozess in Gang zu setzen und zu halten. FĂŒr die geleistete Arbeit erhalten die WerktĂ€tigen nicht den Gegenwert ihrer konkreten Leistung bezahlt, sondern lediglich die Kosten ihrer Reproduktion (sprich: Lebenshaltungskosten im engeren oder weiteren Sinn) refundiert. Die Differenz zwischen dem Wertzuwachs, der in der Produktion erzielt wird, und den Kosten, die Produktionsanlagen und Rohstoffe, Vor- und Hilfsmaterial sowie Löhne und GehĂ€lter verursachen, ist der Mehrwert.

Dieser Mehrwert der Produktion (als ihr tieferer Zweck fĂŒr das Kapital) ist offensichtlich der lebendigen Arbeitskraft zu verdanken. Eine wundersame Vermehrung von toter Materie wie Brot gibt es nur in der Bibel. Angeeignet wird dieser Mehrwert vom Kapital bzw. dem jeweiligen Unternehmen, in dem gearbeitet wird. Die einseitige Aneignung des Mehrwerts wird Ausbeutung genannt. Dabei handelt es sich um keine moralische, sondern eine wissenschaftliche Kategorie. Marx beklagt diesen Tatbestand zunĂ€chst nicht, sondern beschreibt ihn und weist nach, dass es ist, wie es ist.

Umstrittene Zeitfrage

Mit dem Lohn erwerben die Kapitalisten das Recht, die ArbeitsfĂ€higkeit ihrer Arbeiter und Angestellten in einem bestimmten Zeitraum zu nĂŒtzen, der in Tages-, Wochen- und Jahresquanten festgelegt wird. Wird der vereinbarte Rahmen ĂŒberschritten, sind in der Regel zusĂ€tzliche Zahlungen fĂ€llig. Gegenstand einer zentralen Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital ist daher die Festlegung der jeweils konkreten Arbeitszeit pro Tag, pro Woche und pro Jahr fĂŒr den vereinbarten Grundlohn. Die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung hat sich seit Beginn der Industrialisierung vor allem auch um die Zeitfrage gedreht.

Von Anfang an war das Hauptmotiv der WerktĂ€tigen, fĂŒr ihre Rechte einzutreten und sich in Gewerkschaften zu organisieren, die nur gemeinsam Erfolg versprechenden BemĂŒhungen um eine Begrenzung der Arbeitszeit, von der die Unternehmen nie genug bekommen konnten. Erst als die schrankenlose AusplĂŒnderung der arbeitenden Menschen die Kampfkraft der Armeen zu gefĂ€hrden begann, gab es im 19. Jahrhundert zarte BemĂŒhungen zur staatlichen Regulierung des Arbeitstags. Wie weit die Internationalisierung des Arbeitskampfes schon damals vorangeschritten war, zeigt die Tatsache, dass der 1. Mai von Anfang an weltweit als Kampftag um die ArbeitszeitverkĂŒrzung gefeiert wurde.

Drei wesentliche Etappen sind in diesem Bereich auszumachen. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde, weil damals bis zu 60 Arbeitsstunden pro Woche ĂŒblich waren, um den Achtstundentag und die Sechstagewoche gefochten. Der revolutionĂ€ren Ereignisse nach dem Zusammenbruch der MittelmĂ€chte in dem großen Krieg fĂŒhrten zur Durchsetzung dieser fundamentalen Forderung. Im Zuge der BemĂŒhungen der Reaktion, den so genannten revolutionĂ€ren Schutt wegzurĂ€umen, gab es wieder Initiativen zur VerlĂ€ngerung des Arbeitstags. Der Faschismus mit autoritĂ€ren Arbeitsgesetzgebung und der Ausschaltung der organisierten Arbeiterbewegung brachte aus der Sicht des großen Kapitals den Durchbruch in der VerlĂ€ngerung des Arbeitstags wiederum auf zehn bis zwölf Stunden. Nach dem Zusammenbruch des Faschismus und dem VorrĂŒcken von Staaten mit sozialistischem Anspruch nach Mitteleuropa wurden in den meisten westeuropĂ€ischen oder westeuropĂ€isch orientierten LĂ€ndern sozialstaatliche Verfassungsgrundlagen gelegt.

Konsequenzen aus der Niederlage

Daraus entwickelte sich nach und nach eine Orientierung auf den Sozial- bis Wohlstandsstaat. FĂŒr die enorme Steigerung der ArbeitsproduktivitĂ€t, die vorĂŒbergehend sogar lohnmĂ€ĂŸig einigermaßen abgegolten wurde, war die systematische VerkĂŒrzung der Arbeitszeit geradezu Voraussetzung. Eine relativ kurze Periode fuhren Lohnarbeit und Kapital gut damit, auf die Steigerung des relativen (Steigerung der ProduktivitĂ€t) statt wie im Faschismus auf die Steigerung des absoluten Mehrwerts (VerlĂ€ngerung des Arbeitstags) zu setzen. Das war gleichzeitig die materielle Grundlage fĂŒr die Ausbildung der Sozialpartnerschaft zwischen den VerbĂ€nden der Arbeiter- und Unternehmerschaft. Durchgesetzt wurde die VerkĂŒrzung der Wochenarbeitszeit zunĂ€chst auf 48 und dann auf 40 Stunden, die VerkĂŒrzung der Arbeitswoche von sechs auf fĂŒnf Tage und eine wesentliche Erhöhung des Urlaubs auf bis zu sechs Wochen.

Diese Entwicklung war mit dem Ausbruch der ersten Ölkrise 1974 mehr oder weniger abgeschlossen. Obwohl oder weil die Sozialdemokratie in dieser Periode in den meisten westeuropĂ€ischen Staaten die Regierung stellte, begann zunĂ€chst weitgehend unbemerkt eine Wende. Zwar wurde die 35-Stunden-Woche noch als neues Ziel formuliert, aber von den Gewerkschaften nur Ă€ußerst zögerlich umgesetzt. Über die VerkĂŒrzung der Wochenarbeitszeit um zwei auf 38 Stunden ist man nahezu nirgends hinaus gekommen. Gleichzeitig hagelte es eine Offensive des Kapitals mit Schlagworten wie Flexibilisierung, Durchrechnungszeiten, Teilzeit, KapazitĂ€tsorientierung, Ich-AG, „freie“ DienstvertrĂ€ge usw., usf. kombiniert mit einer nun bereits rund 30 Jahre wĂ€hrenden Diskussion ĂŒber die Schwarze Peter Frage, ob die Pensionen in Zukunft finanziert werden können.

Als Begleiterscheinung dieser Strategie, der die GewerkschaftsfĂŒhrungen bisher nichts entgegen zu setzen wussten, trat spĂ€testens ab Beginn der 90-er Jahre (zumindest aber seit dem Beitritt Österreichs zur EuropĂ€ischen Union) eine Stagnation der Löhne und GehĂ€lter ein. Da die WerktĂ€tigen keinen Anteil an den ProduktivitĂ€tssteigerungen erhielten, hatten die Unternehmen objektiv noch mehr Mittel zur VerfĂŒgung, um Rationalisierungsinvestitionen noch effektiver und rascher vorzunehmen. Die ZurĂŒckhaltung der ÖGB-Spitze sowohl in der Lohn- als auch in der Arbeitszeitfrage ist daher direkt mit verantwortlich fĂŒr die stĂ€ndige Steigerung der Arbeitslosigkeit und die SchwĂ€chung der Kaufkraft der WerktĂ€tigen in den letzten 15 Jahren.

Neuer Anlauf unerlÀsslich

Bei Analyse der TĂ€tigkeit (bzw. UntĂ€tigkeit) der ÖGB-Spitze in dieser Zeit drĂ€ngt sich der Schluss auf, dass sie die Wende vom sozialpartnerschaftlichen Konsens mit dem Klassengegner zur erneuten Konfrontation verschlafen hat und nicht weiß, wie sie in dieser neuen Situation agieren soll. ZweckmĂ€ĂŸig erscheint eine volle Konzentration darauf, nach einer langen Durstpause wieder nachhaltige Erfolge in den beiden Themen Lohnsteigerung und ArbeitszeitverkĂŒrzung anzustreben.

Um in diesen Kernbereichen weiter zu kommen, erscheint eine neue Arbeitsweise der FĂŒhrungen von ÖGB und Fachgewerkschaften erforderlich. Dazu ist es notwendig, Maßnahmen in beiden „Kampfzonen“ nicht unter Ausschluss der Gewerkschaftsöffentlichkeit im stillen KĂ€mmerlein mit dem Klassengegner auszuhandeln. Vielmehr kommt es darauf an, sowohl vor Lohnverhandlungen in die Betriebe der jeweiligen Branchen zu gehen und die Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Erfahrung zu bringen. LohnabschlĂŒsse sollten, sofern sie hinter den Ursprungsforderungen zurĂŒckbleiben, den betroffenen BeschĂ€ftigten zur Abstimmung vorgelegt werden. Denn sie und nicht die ÖGB-FunktionĂ€re mĂŒssen mit dem Verhandlungsergebnis leben.

FĂŒr die Formulierung und Durchsetzung von weiteren Schritten zur ArbeitszeitverkĂŒrzung sollten, falls keine gesetzliche Regelung ins Auge gefasst wird, BetriebsrĂ€tekonferenzen auf Landes- und Bundesebene einberufen werden. Sie sollten das Recht haben, konkrete Vorhaben und Projekte unter Beratung durch die Fachleute aus dem ÖGB in Bezug auf Inhalt und Zeitplan verbindlich zu beschließen. Gleichzeitig sollte der selbstreferenzielle Zustand beendet werden, der darin besteht, dass Spitze und BĂŒrokratie des ÖGB lediglich die Aufgaben ausfĂŒhren, die sie sich selbst gestellt haben. Stattdessen sollten sie sich als demokratische Dienstleistungsorgane verstehen, die dazu da sind, die Interessen und ArbeitsauftrĂ€ge der ÖGB-Mitglieder umzusetzen.

Lutz Holzinger ist Journalist in Wien


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