Dienstag, 14. März 2006 @ 15:14
Der Angriff auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie
Zum ersten Mal in der Geschichte der EuropĂ€ischen Union stehen bestehende europĂ€ische soziale Mindestvorschriften massiv unter Beschuss. Das schwache Schutzniveau der geltenden EU-Arbeitszeitrichtlinie soll weiter abgesenkt werden! Dies wollen jedenfalls die meisten Regierungen der Mitgliedstaaten, die EuropĂ€ische Kommission und die Mehrheit des EuropĂ€ischen Parlaments. Die derzeit gĂŒltige EU-Arbeitszeitrichtlinie ist seit 1993 in Kraft. Damals einigten sich die Mitgliedstaaten der EuropĂ€ischen Gemeinschaft nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begrenzt die Richtlinie die maximale durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden. Diese Norm wurde bereits vor 86 Jahren auf internationaler Ebene vereinbart - durch das ILO-Abkommen C1 aus dem Jahr 1919!
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit wird in der Regel ĂŒber einen Zeitraum von vier Monaten bestimmt. So kann die Arbeitszeit in einer einzigen Woche bereits jetzt auf bis zu 78, und unter bestimmten Bedingungen sogar auf 89 Stunden ausgeweitet werden. Per Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag kann der Bezugszeitraum zur Messung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit auf 12 Monate ausgedehnt werden. Damit ermöglicht schon die geltende Richtlinie Lange und sehr flexible Arbeitszeiten im Interesse der Unternehmer.
Sie enthĂ€lt zudem viele Schlupflöcher und Ausnahmeregelungen. Durch eine âfreiwilligeâ schriftliche ErklĂ€rung können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar einwilligen, auf den Mindestschutz der Richtlinie von 48 Stunden maximaler Wochenarbeitszeit zu verzichten - das so genannte individuelle Opt-out.
Angriff Nr. 1: Flexibilisierte Jahresarbeitszeit
Die EuropĂ€ische Kommission will den Mitgliedstaaten ermöglichen, per Gesetz oder Verordnung den Bezugszeitraum fĂŒr die Messung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit generell auf 12 Monate auszudehnen. Damit wĂŒrde die bestehende Regel beiseite gefegt, dass dies nur durch Kollektivvereinbarungen möglich ist. Eine groĂe Koalition im EuropĂ€ischen Parlament, bestehend aus Sozialdemokraten, GrĂŒnen sowie Teilen der Konservativen und Liberalen, fordert Ăhnliches. Sie will zwar die alte Regelung zu Kollektivvereinbarungen erhalten. Sofern BeschĂ€ftigte keiner Kollektivvereinbarung unterliegen, soll durch Gesetz und Verordnung ein Bezugszeitraum von 12 Monaten festgelegt werden können.
Regierungen könnten so, ohne auf die Gewerkschaften RĂŒcksicht nehmen zu mĂŒssen, erheblich gröĂere SpielrĂ€ume zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten im Interesse der Unternehmen schaffen. Die UnternehmerverbĂ€nde könnten bestehende Kollektivvereinbarungen zu Jahresarbeitszeitkonten kĂŒndigen und dann die (wahrscheinlich schlechteren) Bedingungen nutzen, die neue Gesetze und Verordnungen als Mindeststandards vorsehen.
Arbeitszeitflexibilisierung nach dem Leitbild des âatmenden Unternehmensâ geht aber schon jetzt zu Lasten der Gesundheit der BeschĂ€ftigten. Unternehmen passen die Arbeitszeiten ihrer Auftragslage an. FĂŒr die BeschĂ€ftigten bedeutet dies in der Regel mehr Stress und Termindruck, unregelmĂ€Ăige und oft ĂŒberlange Arbeitszeiten. Auftragsspitzen im Unternehmen werden durch prekĂ€re BeschĂ€ftigung âbewĂ€ltigtâ, durch Arbeit auf Abruf, Leih- und Zeitarbeit und durch Minijobs. So koppelt sich das betriebliche Geschehen vom Arbeitsmarkt ab. Erwerbslose haben kaum eine Chance, regulĂ€r eingestellt zu werden.
Die Erwerbsarbeit verliert jedes verlĂ€ssliche MaĂ. Nicht nur bei leitenden Angestellten, sondern auch zunehmend im mittleren Bereich wird durch âindirekte Steuerungâ, âVertrauensarbeitszeitâ, âProjektarbeitâ usw. die Arbeitszeit oft gar nicht mehr gemessen. Die Folge: âArbeiten ohne Endeâ. Eine verlĂ€ssliche, auch nur kurz- und mittelfristige Lebensplanung wird fĂŒr BeschĂ€ftigte immer schwieriger. Erwerbs- und Privatleben zu vereinbaren wird zum Dauerkonflikt fĂŒr viele.
Angriff Nr. 2: Bereitschaftszeiten
Der EuropĂ€ische Gerichtshof hat seit dem Jahr 2000 in bislang drei Urteilen (SIMAP, JĂ€ger, Pfeiffer) die geltende EU-Arbeitszeitrichtlinie ausgelegt. Er verfĂŒgte, dass am Arbeitsplatz verbrachte Bereitschaftszeiten voll als Arbeitzeit bewertet werden mĂŒssen. Ferner mĂŒssen Ausgleichsruhezeiten unmittelbar im Anschluss an eine Arbeitsperiode mit Bereitschaftszeit gewĂ€hrt werden. Das Bundesarbeitsgericht in Deutschland hat in seiner Entscheidung vom Februar 2003 diesen Standpunkt ĂŒbernommen.
Die EuropĂ€ische Kommission schlĂ€gt nun vor, bei Bereitschaftszeiten zwischen einem aktiven und einem âinaktivenâ Teil zu unterscheiden. Als aktiver Teil gilt, wenn auf ausdrĂŒckliche Aufforderung durch den Arbeitgeber Arbeit verrichtet wird. Der âinaktiveâ Teil soll nicht als Arbeitszeit gewertet werden. Die Ausgleichsruhezeit soll um bis zu 72 Stunden (d. h. sieben Arbeitstage) aufgeschoben werden können.
Nicht viel besser ist die Position des EuropĂ€ischen Parlaments. Zwar soll auch der inaktive Teil der Bereitschaftszeit als Arbeitszeit gelten. Durch KollektivvertrĂ€ge oder Gesetze und Verordnungen der Mitgliedstaaten soll dieser aber âbesonders gewichtetâ werden können. Dies könnte zum Beispiel heiĂen, dass acht Stunden âinaktiverâ Bereitschaftszeit nur als zehn Minuten, als eine Stunde oder voll als Arbeitszeit gewertet werden. Die Ausgleichsruhezeit soll ânachâ einer Arbeitsperiode mit Bereitschaftsdienst gewĂ€hrt werden. âNachâ ist eine sehr unbestimmte Zeitspanne - sind das zehn Minuten, eine Stunde, zwei Wochen?
Sowohl die Kommission als auch das EuropĂ€ische Parlament stellen somit die klaren Urteile des EuropĂ€ischen Gerichtshofs auf den Kopf. Als Reaktion auf diese Urteile ist in Deutschland zum 1. Januar 2004 ein neues Arbeitszeitgesetz in Kraft getreten. Es bestimmt wenigstens im Grundsatz, dass Bereitschaftszeiten bei der wöchentlichen (48 Stunden) und tĂ€glichen (acht bzw. zehn Stunden) Höchstarbeitszeit anzurechnen sind. Dies könnte durch eine Ănderung der EU-Arbeitszeitrichtlinie wieder in Frage gestellt werden.
Die Tarifgemeinschaft deutscher LĂ€nder mahnt bereits, dass im Bereitschaftsdienst in KrankenhĂ€usern allgemeine Visiten oder das Schreiben von Berichten als âinaktiveâ Bereitschaftszeit gelten mĂŒssen - und damit nicht als Arbeitszeit! Auch auĂerhalb des Gesundheitswesens könnte normale Arbeitszeit als âinaktiveâ Bereitschaftszeit umgedeutet werden - etwa Wartezeiten von Kellnerinnen und Kellnern oder ServicekrĂ€ften.
An den unhaltbaren ZustĂ€nden bei den Arbeitszeiten im Gesundheitswesen soll sich nach dem Willen der Kommission und der Mehrheit des EuropĂ€ischen Parlaments offenbar nichts Ă€ndern. In Deutschland liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von KrankenhausĂ€rzten um die 70 Stunden. Durch normalen Dienst und anschlieĂende Bereitschaftszeit sind BeschĂ€ftigte von KrankenhĂ€usern oft bis zu 32 Stunden durchgehend am Arbeitsplatz.
Wer möchte als Patientin oder Patient aber schon gerne von ĂŒbermĂŒdeten und gestressten Ărzten operiert werden? Und wie umsichtig und effektiv können BeschĂ€ftigte von Rettungsdiensten (z. B. SanitĂ€ter, Feuerwehrleute) unter solch belastenden Arbeitzeitregelungen auf Dauer ihren Dienst verrichten? Dass der zunehmende Personalnotstand in diesen Bereichen eine Folge der unzumutbaren Arbeitsbedingungen ist, kann wohl kaum lĂ€nger geleugnet werden. Kommission und Parlament setzen mit ihren zynischen VorschlĂ€gen die ZukunftsfĂ€higkeit des Gesundheitswesens in Europa aufs Spiel.
Streitpunkt Nr. 3: Das individuelle Opt-out
Die EuropĂ€ische Kommission will das âindividuelle Opt-outâ beibehalten. In Betrieben ohne bestehende Kollektivvereinbarung oder anerkannte Arbeitnehmervertretung soll es mit bestimmten EinschrĂ€nkungen weiter gelten. DarĂŒber hinaus sollen kĂŒnftig KollektivvertrĂ€ge auf Basis des Opt-outs ermöglicht werden, um Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden zu vereinbaren. Die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen kĂ€men damit zusĂ€tzlich unter Druck. Entweder sie unterzeichnen â0pt-outâ-Vereinbarungen oder sie werden von den UnternehmerverbĂ€nden nicht mehr als Vertragspartner anerkannt.
Das EuropÀische Parlament fordert zu Recht, das Opt-out 36 Monate nach Inkrafttreten der geÀnderten Arbeitszeitrichtlinie gÀnzlich abzuschaffen. Die EuropÀische Kommission und viele Mitgliedstaaten lehnen diese Forderung strikt ab.
Rolle rĂŒckwĂ€rts in Europa?
So leistet die europĂ€ische Ebene im wesentlichen SchĂŒtzenhilfe fĂŒr die Kampagne von Unternehmern und Regierungen, lĂ€ngere und flexiblere Arbeitszeiten in den Mitgliedstaaten durchzudrĂŒcken. In Frankreich attackiert die Regierung die 35-Stunden-Woche. In der Bundesrepublik sind ArbeitszeitverlĂ€ngerungen nicht nur bei Beamten und Lehrern im öffentlichen Dienst an der Tagesordnung. Die amtierende rot-grĂŒne Bundesregierung spricht sich fĂŒr flexiblere Arbeitszeiten aus. Das neue deutsche Arbeitszeitgesetz bestimmt, dass im Gesundheitswesen und bei Pflegediensten bis zum 31.12.2005 TarifvertrĂ€ge auf Basis des Opt-outs geschlossen werden können - mit deutlich lĂ€ngeren Wochenarbeitszeiten als 48 Stunden. Die Opposition von CDU/CSU und FDP fordert generell lĂ€ngere Arbeitszeiten.
Im Sommer 2004 setzte Siemens die 40-Stunden-Woche in zwei Betrieben durch und vermeldete im November 2004 zugleich einen Rekordgewinn in Milliardenhöhe. Dieses Beispiel hat inzwischen Schule gemacht - nicht nur bei GroĂkonzernen wie DaimlerChrysler, General Motors, Karstadt usw., sondern auch in mittelstĂ€ndischen Unternehmen. In vielen EU-Staaten gibt es vergleichbare betriebliche âPakte zur Standortsicherungâ, welche die Belegschaften zu lĂ€ngeren und flexibleren Arbeitzeiten, zu Abstrichen bei Entgelten und sonstigen Leistungen zwingen.
ArbeitzeitverlĂ€ngerung bei gleichem Monatsgehalt ist schlicht Lohnsenkung. Durch lĂ€ngere Arbeitszeiten produzieren die Unternehmen mehr GĂŒter und Dienstleistungen, die sie wegen der schlechten Lohnentwicklung und schwachen Binnennachfrage aber nicht absetzen können. LĂ€ngere Arbeitszeiten fĂŒhren so ĂŒber kurz oder Lang zu höherer Arbeitslosigkeit.
Wenn die EU-Mindeststandards zur Arbeitzeit abgesenkt werden, wird sich diese Situation weiter zuspitzen. Was die EuropĂ€ische Kommission, die Mehrheit des EuropĂ€ischen Parlaments und viele Regierungen der Mitgliedstaaten durchsetzen wollen, ist eine Rolle rĂŒckwĂ€rts zum Manchester-Kapitalismus!
Es geht auch anders: Ein neuer EU-Arbeitszeitstandard
HĂ€ufig wird auf die demografische Entwicklung verwiesen: die Bevölkerung in den LĂ€ndern der EU wird bis 2050 im Durchschnitt Ă€lter und geht zugleich zurĂŒck. Dies erfordert, dass junge wie Ă€ltere Menschen gesund und fit bis zur Rente im Erwerbsleben verbleiben können. Mehr Stress (âFlexibilitĂ€tâ) im Beruf und allgemeine wirtschaftliche Unsicherheit verschĂ€rfen daher die Probleme des demografischen Wandels.
Die EU muss vielmehr die QualitĂ€t der Arbeit fördern und ihr wieder ein menschliches MaĂ geben. Dies beinhaltet umfassenden Schutz vor physischer und psychischer Ăberlastung, ergonomische Mindeststandards und persönlichkeitsfördernde Arbeitsinhalte, StĂ€rkung kollektiver Mitbestimmungsrechte und Beteiligungsrechte der einzelnen BeschĂ€ftigten bei Entscheidungen ĂŒber Lage und Verteilung der Arbeitszeit.
Aus der jĂŒngeren deutschen Vergangenheit wissen wir: Nicht ArbeitszeitverlĂ€ngerung, sondern ArbeitszeitverkĂŒrzung hat zu neuen ArbeitsplĂ€tzen und damit zu Entlastungen auf dem Arbeitsmarkt gefĂŒhrt. Berechnungen der Bundesanstalt fĂŒr Arbeit und des Deutschen Instituts fĂŒr Wirtschaftsforschung (DIW) fĂŒr den Zeitraum von 1985 bis 1998 kommen auf 700.000 bis eine Million zusĂ€tzlicher ArbeitsplĂ€tze durch ArbeitszeitverkĂŒrzungen. Deren GesamtbeschĂ€ftigungseffekt von 1960 bis Ende der 1990er Jahre belĂ€uft sich auf insgesamt etwa acht Millionen ArbeitsplĂ€tze.
Die Mehrheit der Bevölkerung in den 15 âaltenâ EU-Mitgliedstaaten wĂŒnscht kĂŒrzere Wochenarbeitszeiten - im Durchschnitt von 34,5 Stunden. Im Jahr 2003 betrug die tatsĂ€chliche wöchentliche Arbeitszeit (einschlieĂlich Ăberstunden) der VollzeitbeschĂ€ftigten 40,2 Stunden im Durchschnitt der EU-25. Selbst das ist deutlich weniger als die in der geltenden EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehene maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden.
Die maximale Wochenarbeitszeit muss deshalb in Richtung der tatsĂ€chlichen Arbeitszeiten abgesenkt werden. FĂŒr die âWirtschaftâ ist dies keine zusĂ€tzliche Belastung - die Menschen arbeiten ja bereits jetzt schon weniger. Bei kĂŒrzeren und lebensgerechteren Arbeitszeiten arbeiten sie zudem auch effektiver und produktiver.
Die Ănderung der Arbeitzeitrichtlinie muss einen neuen EU-Arbeitszeitstandard schaffen:
- Die maximale Wochenarbeitszeit ist in einem ersten Schritt nach oben drastisch zu begrenzen (z.B. auf 42 Wochenstunden);
- Alle âAnreizeâ (bei Steuern, Lohnnebenkosten usw.) fĂŒr prekĂ€re BeschĂ€ftigungsverhĂ€ltnisse mĂŒssen abgeschafft werden;
- Teilzeit muss als substanzielle, geschĂŒtzte Teilzeitarbeit (15-25 Wochenstunden) gestaltet werden - fĂŒr alle, die Teilzeit wollen;
- Voll- und Teilzeitarbeit mĂŒssen im Hinblick auf Karrierechancen, Stundenentgelte, Sozialleistungen, Weiterbildung usw. gleichgestellt werden.
Die Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden haben gezeigt: Die Mehrheit der Bevölkerung will ein anderes, ein soziales Europa. In Frankreich war dies auch ausdrĂŒcklich ein Votum gegen die geplante Ănderung der EU-Arbeitszeitrichtlinie. Die EU muss Kurs nehmen auf kĂŒrzere Arbeitszeiten und auf die bessere Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben. Kurzfristig geht es darum, das Opt-out abzuschaffen, die Urteile des EuropĂ€ischen Gerichtshofs zu Bereitschaftszeiten konsequent umzusetzen und jede AbschwĂ€chung der Schutzstandards der Arbeitszeitrichtlinie zu verhindern!
Information der Linksfraktion GUE/NGL (Vereinigte EuropĂ€ische Linke/Nordische GrĂŒne Linke) im EuropĂ€ischen Parlament
Weitere Informationen dazu unter http://www.pds-europa.de[*1]